Barbara Lange: Erinnerungen

Vorwort an die Kinder Jens, Martin und Klaus

Liebe Kinder !

Schon lange habt Ihr mich gebeten, doch mal aufzuschreiben, wie es mir in meinem Leben ergangen ist, was ich erlebt habe, besonders natürlich in der Zeit vor dem Jahre 1945. Diese Jahreszahl stellt eine große Zäsur in unser aller Leben dar, auch wenn man im vorgerückten Alter feststellt, dass irgendwie alles im Leben zusammenpasst. Die einzelnen Lebensabschnitte setzen sich wie ein Puzzlespiel zusammen – zumindest rückblickend -. Da ich heute nur noch aus der Erinnerung schreiben kann, weil ich keine Tagebuchaufzeichnungen besitze, wird es sich nicht alle chronologisch ordnen lassen, dennoch hoffe ich, dass Euch meine Schreiberei ein wenig Einblick gibt in eine Zeit, die ja nun unwiederbringlich vergangen ist. Bei meinem diesjährigen (1991) Besuch in „Ostpreußen“ konnte ich das nun selber sehen und erleben, von meinem Geburtshaus in Waldhausen sind nicht mal mehr Trümmer zu finden, sondern nur eine Wildnis von Brennnesseln, Holunder, alles mannshoch und zugewachsen. Dieses zu sehen, erleichterte mir das endgültige Abschiednehmen sehr, dieser Teil meiner Kindheit konnte getrost beiseite gelegt werden, es ist keine Sehnsucht mehr, sondern endgültig Vergangenheit. Diese Reise war für mich sehr wichtig, da ich immer Schwierigkeiten habe und hatte, Bremen nun als meine neue Heimat wirklich zu akzeptieren, zu viele Wurzeln schienen noch im Osten zu sein, nun fällt es mir wesentlich leichter, die Vertreibung auch innerlich zu akzeptieren. Das sind ja Dinge, die nicht so unbedingt über den Verstand laufen, denn Emotionen lassen sich nicht befehlen. – Nach 1945 begann eine unruhige Zeit, Verlust der Heimat, Verlust des Elternhauses, keine abgeschlossene Schulbildung, es ging ums nackte Überleben, wo und wie bekomme ich am nächsten Tag etwas zu essen, wo kann ich schlafen, alles Überlegungen, die angestellt werden mussten, besonders in den ersten Wochen nach dem Krieg, da wir ja immer noch dachten, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können.

Nachdem die Endgültigkeit des Verlustes der deutschen Ostgebiete klar wurde, mussten berufliche Pläne realisiert werden, das war schwierig, als wir ja sehr eingeschränkt waren in dem, was man machen konnte. Viele Möglichkeiten wurden gar nicht ins Auge gefasst, weil das von der Gesellschaftsschicht her nicht standesgemäß war. Aus meiner heutigen Sicht wäre es vielleicht für mich gar nicht schlecht gewesen, ein Handwerk zu lernen, aber das lag außerhalb meines Denkens. Nachdem ich in den ersten Monaten nach dem Krieg beim Roten Kreuz als Schwesternhelferin gearbeitet hatte, ging ich 1946 nach Oldenburg und verdingte mich als Sprechstundenhilfe bei einem praktischen Arzt. Im November 1948 versuchte ich für 2 Jahre mein Glück in Groß-Britannien, im Jahre 1950 kehrte ich von dort zurück. Dann absolvierte ich 1951 in Hamburg eine Private Handelsschule, um bei der Shell im Auslandsfernschreiber tätig zu sein. Im Jahre 1952. heiratete ich Gustav Alken, die Ehe wurde 1955 geschieden, und danach war ich eigentlich noch mehr aus der Bahn geworfen, ich kam mit der so veränderten Welt nicht zurecht. Leider hatte ich niemanden, der mir hätte Hilfestellung geben können, denn wir waren ja alle mehr oder weniger überfordert, angefangen von meiner Mutter, als auch meinen Schwestern. Im Jahre 1959 begegnete ich dann Eurem Vater, wir heirateten noch im selben Jahr, und diese Ehe bestimmt nun seit 32 Jahren mein Leben. Dass wir Schwierigkeiten miteinander haben würden, hatten wir nicht angenommen. Die Freude darüber, einen Menschen gefunden zu haben, der aus der Heimat stammte, war auf beiden Seiten wohl so groß, dass alles andere überdeckt wurde. Unsere Lebenswege seit 1945 waren so völlig unterschiedlich verlaufen, es hatte keine Kontinuität in der Entwicklung gegeben. Das alles übersahen wir nicht, und wenn es uns jemand gesagt hätte, wir hätten es nicht geglaubt! Aber dieses alles haben wir erst nach vielen schweren Jahren begriffen, und es wird sicher auch in meinen Erinnerungen einen größeren Raum einnehmen. Aber es sind immer neue Erkenntnisse dazu gekommen und ein abschließendes Urteil über diese gemeinsamen Jahre kann erst später gefällt werden.

Jetzt – wir schreiben 1992 – und nachdem wir beide zur Ruhe gekommen sind, – Renten- und Pensionsalter haben dazu beigetragen – will ich also versuchen, Euch einen Einblick zu geben in mich, die dazugehörigen Umstände und damit in mein Leben. Meine Erinnerungen erheben nicht den Anspruch der Objektivität, sondern sind subjektive Erlebnisse und Erfahrungen, die vielleicht sogar von anderen Menschen ganz anders erlebt worden sind. Vieles steht nur noch in Bildern vor mir, ich will versuchen, sie in Worte umzusetzen. Heute bin ich für mein Leben – so wie es war – dankbar, im Nachhinein wird einem die ganze Bewahrung erst klar, die man durch Gott erfahren hat. Allerdings wünschte ich mir, dass ich schon in jüngeren Jahren zum Glauben an Jesus Christus gefunden hätte, vielleicht wäre dann manche Situation für mich besser zu bewältigen gewesen, aber da Gott alle Umwege und Irrwege zugelassen hat, gebe ich mich zufrieden. Ich wünsche Euch ein wenig Vorstellungskraft beim Lesen, ein wenig Hineindenken in die Zeit von vor 1945, eine Welt in Ostpreußen, etwa 800 km von hier entfernt – in Richtung Osten.

Bremen, den 18. Januar 1992

Teil 1

Meine Eltern heirateten im April 1914 in Königsberg, mein Vater übernahm eine preuß.Domäne, Neu Golmkau, (ein Gut, welches dem preuß. Staat gehörte) als Pächter in der Nähe von Sobbowitz im Kreis Berent. Meine Großmutter, die alte Frau Heumann, war in der Lage, auch nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1904 (siehe Chronik) ihre Töchter – 12 Kinder hatte sie, davon 9 Töchter – finanziell gut auszustatten, da die Waggonfabrik Steinfurt in Königsberg weiter bestand, nur zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt worden war.

Meine Mutter erhielt zu ihrer Hochzeit nicht nur eine sehr gute Aussteuer für 12 bzw. 24 Personen, also einen kompletten Gutshaushalt, sondern dazu Aktienanteile an der Fabrik sowie Barkapital und andere Wertpapiere. Wenn ich jetzt Zahlen nenne, so sind sie mir erzählt worden, es soll kein Streitpunkt.sein, wenn jemand andere Zahlen nennt. Lt. Meiner Patentante Gehrkchen sollen ca. RM 20.000 im Jahr an Zinsen angefallen sein, zumindest bis zur Inflation im Jahre 1929, und als Erstausstattung hatte meine Mutter 250.000 Goldmark in bar erhalten. Das wäre heute weit über 1 Million DM, vielleicht auch sehr viel mehr. Meine Eltern hatten dadurch einen Lebensstil, den ihr euch gar nicht mehr vorstellen könnt.

Im August 1914 brach der erste Weltkrieg aus, mein Vater wurde eingezogen und im Range eines Leutnants als Wirtschaftsoffizier eingesetzt. Er bewirtschaftete während des Krieges große Ländereien in Kurland (Baltikum), wo er auch seinen ersten Auerhahn schoß, der dann bei uns im Herrenzimmer ausgestopft hing. – Nun mußte meine Mutter allein Haus und Hof bewirtschaften, z.T. mit Kriegsgefangenen, so etwas hatte sie nie erlernt, denn die Erziehung der Mädchen war damals etwas anders als heute. Sie lernten Malen, Klavierspielen, Singen, Konversation, Französisch (in einem Brüsseler Internat) Sticken, Stricken, Nähen, auch Weißnäherei (also Bettwäsche, auch Tischwäsche mit selbstgefertigten Häkeleinsätzen), dazu Kochen etc.. Zwar hatte meine Mutter im Jahre 1912 (das Verlobungsjahr der Eltern) eine Gartenbauschule besucht (zusammen mit der Mutter von Hans Bender), aber von der Außenwirtschaft, also Ackerbau und Viehzucht, verstand sie nichts, musste sich also auf des verbliebene Personal verlassen. Die taten ihre Arbeit so gut oder so schlecht, wie es möglich war. Aber es musste ja zusätzlich noch die Armee versorgt werden, also Kontingente an den Staat abgegeben werden. In dieser Zeit wurden meine Schwestern Susanne 1915 und Ursel 1917 geboren. Im Jahre 1918 kam mein Vater gesund aus dem Krieg zurück und konnte nun die Zügel wieder in die Hand nehmen. Inzwischen war der Versailler Vertrag abgeschlossen worden, das bedeutete große Gebietsabtretungen an Polen und die Neuschaffung des Freistaates Danzig . Meine Eltern wohnten nun 3 km von der Danziger Grenze entfernt im nun polnischen Korridor und damit im polnischen Staat – das traf meine Eltern schwer. Nun hieß Neu-Golmkau „Nowo Golomiewko“, aber ansonsten ging des Leben wohl vorerst so weiter. Als im Jahre 1920 meine Schwester Ingeborg (Mohrchen) geboren wurde, bekam sie einen polnischen Geburtsschein und war damit natürlich polnische Staatsbürgerin.

Dieses behagte meinen Eltern in ihrer deutsch-nationalen Überzeugung nicht, so dass der einzige Ausweg die Rückkehr nach Deutschland, bzw. Ostpreußen war. Die Ausreise war nur unter großen Verlusten möglich – schließlich hatten wir den Krieg verloren und Kriegsschulden waren zu begleichen, weshalb der polnische Staat das Bargeld nicht herausgab. Außerdem waren hohe Zölle zu zahlen, um den gesamten Hausstand nach Deutschland zu überführen. Deshalb fing meine Mutter an, sämtliches Silber (Tafelsilber, Schmuck etc.) über die 3 km entfernte Grenze nach Danzig zu schmuggeln, wo die Eltern Freunde hatten, ein Ehepaar Hantel. In den Wintermonaten wurde unter den großen Fahrpelzen, die man gegen die Kälte im offenen Schlitten trug, alles herübergeschafft, was nur möglich war. Der Kutscher nahm sogar ganze Speckseiten unter seinen großen Mantel und da er eine Kriegsverletzung am Bein hatte, brauchte er auch nicht immer aus dem Schlitten zu steigen. Mutti ist dann auch einmal erwischt worden, aber da die Zöllner den Silberstempel 800 bei einer Tischklingel nicht finden konnten, durfte sie die Grenze passieren. Auch erzählte sie, dass nach einem Besuch im Freistaat Danzig im. Winter, ein großer Schneesturm eingesetzt hatte, der Zöllner das Nahen des Schlittens nicht gehört hatte (obwohl die Pferde immer Schellen an den Geschirren hatten) und dann hinter ihnen her schoss, aber sein Ziel im Dunkeln Gott sei Dank verfehlte. Das gesamte Mobiliar wurde in Eisenbahnwaggons verladen, die Zöllner an der Danziger Grenze bestochen, und so fuhren die Waggons verplombt bis nach Ostpreußen durch. Inzwischen hatte meine Großmutter Heumann erneut ihre Geldschatulle geöffnet, die Eltern hatten ja alles Bargeld verloren, und ihnen das Gut Waldhausen in Masuren gekauft, das war im Jahr 1920. Dort bekamen dann meine Schwestern eine Hauslehrerin, Fräulein Olga Gehrke, die bis ca. 1927 bei uns blieb und zu meinem Schulanfang im Jahre 1932 wieder bei uns war. Die Schwestern gingen dann nach Lötzen, um das Lyzeum zu besuchen. Da mein Vater Amtsvorsteher war – eine Verwaltungsarbeit, die er nicht gern machte – übernahm „Gehrkchen“ auch diese Arbeit. Mein Vater war im Umgang ein schwieriger Mensch, und es war für uns Kinder nicht immer leicht, mit ihm auszukommen. In der Familie wurde das auf seinen sehr schweren Reitunfall zurückgeführt, den er als junger Mann erlitten hatte, ein Sturz, der einen 7 doppelseitigen Schädelbasisbruch zur Folge hatte, was sehr persönlichkeitsverändernd für ihn gewesen sein soll.

Am 3. Dezember 1925 wurde ich in Waldhausen Krs. Sensburg/ Ostpreußen geboren. Da die Hebamme nicht rechtzeitig zur Stelle war, wurde ich von unserer damaligen Hauslehrerin, Fräulein Olga Gehrke, in Empfang genommen, das war um 0.10 Uhr. Sie nabelte mich auch ab, so daß ich schon in meinem Körbchen lag, bevor die Hebamme eintraf. Sie mußte dann nur noch meine Mutter versorgen, die bei der Geburt einen Blutsturz erlitten hatte. Ob man auch noch einen Arzt hinzugezogen hatte – der wahrscheinlich von weiter herkommen mußte, ist mir nicht bekannt. Damals war es ja ganz selbstverständlich, daß man die Kinder zu Hause bekam und Fräulein Gehrke, genannt Gehrkchen, wurde dann auch meine Patentante. Es muß ein strenger Winter gewesen sein, man erzählte mir von Frost und hohem Schnee. Die zuständige Kirche, um mich zu taufen, war in Seehesten, ca. 15 km entfernt. Ich habe auf meiner diesjährigen Reise Seehesten aufgesucht, die Kirche steht noch und wird jetzt von Katholiken benutzt. Ich sollte im März getauft werden, obwohl es ein Risiko war, im Winter mit einem so kleinen Kind im Schlitten die weite Fahrt zu unternehmen. Aber es kam alles ganz anders, ich erkrankte an einer Mittelohrentzündung und wurde ins Sensburger Krankenhaus (das heute noch steht) gebracht, wo ich von einem Dr. Ankermann operiert wurde. Da man noch kein Penicillin oder dergleichen Antibiotika kannte, war diese Operation sehr gefährlich, denn der Knochen hinter dem rechten Ohr mußte aufgestemmt werden, damit der Eiter abfließen konnte. Ich bin dann wohl 3 Wochen im Krankenhaus geblieben, und da meine Mutter mich sowieso nicht stillen konnte, gab es wenigstens mit der Ernährung keine Probleme. Bis heute ist die große Narbe hinter dem rechten Ohr sichtbar, ist sogar als Erkennungsmerkmal in meinem Personalausweis eingetragen. Außerdem habe ich nie auf dem rechten Ohr gut hören können, weshalb ich immer mit dem linken Ohr telefonieren muss.

Meine Taufe fand dann im Mai statt, da war es dann schon etwas wärmer. Meine Erinnerung reicht etwa bis zu meinem 3. Lebensjahr zurück, aber nur bzgl. Eindrucksvoller Begebenheiten. Waldhausen hatte ein recht geräumiges Gutshaus, es war nichts Besonderes, aber ausreichend für uns. Es gab ein großes Damenzimmer, Herrenzimmer, Schlafzimmer der Eltern, Kinderzimmer, Esszimmer und eine Eingangsdiele, außerdem den Küchenbereich mit Speisekammer und Bad. Im oberen Stock befanden sich 4 Zimmer, Nebenkammern für Vorräte und ein WC – ja wir hatten im Gutshaus fließend Wasser und auch elektrisches Licht.

Im Jahre 1928 kauften sich meine Eltern ein erstes Radio, da- Barbara Fähser, 1939 Gutshaus Waldhausen 1977 mals noch mit gesondertem Lautsprecher und ein Gerät zum Einstellen der Sender, aber man konnte wohl nur Königsberg hören, die Reichweite war nicht sehr groß.

Eines Tages, es war wohl Januar, wurde in Waldhausen ein Schwein geschlachtet. Alle waren in der Küche, meine Mutter, Gehrkchen – die bei solchen Vorhaben immer half – und natürlich auch ich, denn die Küche hat mich schon immer interessiert. Es war herrlich beim Wurstmachen zuzusehen, wenn das Fleisch durch die Fleischmaschine gedreht wurde – alles per Hand – oder wenn in den großen Holztrögen bis zum Ellenbogen in der Wurstmasse herumgerührt wurde. Einmal schickt Mutti mich zum Vati, um Bindfaden zu holen, die Würste mußten ja im Darm abgebunden werden. Ich lief ins Herrenzimmer, dort war alles dunkel und mein Vater war nicht da, aber ich hörte eine Männerstimme. Voller Angst rannte ich zurück in die Küche und rief: „In Vatis Zimmer spricht ein fremder Mann“, das Radio war angestellt gewesen!! Auch hatten wir schon ein Telefon, und wenn meine Schwester Mohr ans Telefon ging, meldete sie sich immer mit „Hier ist Ingeborg Fähser“, weshalb auch ich einmal den Hörer abnahm und mich mit „Hier ist Bärbelborg Fähser“ meldete, da war ich wohl so 4 Jahre alt. Das waren meine ersten Erfahrungen mit der Technik !! –

Im Winter wurden nicht alle Räume geheizt, man schränkte sich ein, erstens war es zu teuer, zweitens waren die Räume zu hoch und zu groß, um warm zu werden, auch waren nur Kachelöfen vorhanden, die nicht genügend Heizkraft hatten. Das Herrenzimmer wurde im Winter mit einem großen Teppich zur Hälfte abgeteilt, damit es benutzbar war. Am Abend saß die ganze Familie um den großen Tisch – in Vatis Zimmer stand eine große Ledergarnitur – und handarbeitete, es gab Bratäpfel aus der Ofenröhre und es war warm und gemütlich, dabei wurden dann auch die Nachrichten des „drahtlosen Dienstes“ gehört. Ich habe mich immer gewundert, warum die so „(d)ratlos“ sind. Zu Weihnachten wurde das große Damenzimmer geheizt, da stand der ca. 3,5 m hohe Weihnachtsbaum, von meiner Mutter liebevoll geschmückt, mit ca. 60 Kerzen, Lametta und großen bunten Kugeln.

Zur Bescherung versammelte sich die ganze Familie, einschließlich Gehrkchen, dazu natürlich auch das übrige Personal, Küchenmädchen, Stubenmädchen, Haustochter, der Inspektor – falls er unverheiratet war. Um 18.00 Uhr etwa war dann endlich die Spannung vorbei, alles stand erwartungsvoll da, wenn die großen Flügeltüren sich öffneten. Es wurde gesungen, wir Kinder mussten unsere Weihnachtsgedichte aufsagen, die Schwestern hatten sie fein säuberlich in Schönschrift auf ein großes -DIN-A3-Blatt geschrieben. Dann wurden wir an unsere Gabentische geführt, damals wurde noch nichts so verschwenderisch eingepackt, und wir freuten uns über die Geschenke, die üppig und meist die Erfüllung von lang ersehnten Wünschen waren. Ich bekam einmal einen kleinen Rodelschlitten geschenkt, der noch bis 1945 existierte.

Weihnachten war der Höhepunkt des Jahres in unserer Kinderzeit, darauf freuten wir uns schon viele Wochen vorher. Wir handarbeiteten unter Gehrkchens Aufsicht immer Geschenke für Mutti. Ich stickte kleine Deckchen für den silbernen Brotkorb und jedes Mal, wenn ich mich am Nachmittag an die Arbeit machte, hatten die „Heinzelmännchen“ schon weitergestickt, das war immer eine große Überraschung. Übrigens mussten sämtliche Handarbeiten von links genauso akkurat aussehen wie von rechts.

Etwa um 1927/28 verließ uns Gehrkchen, Ursel und Sanna mussten aufs Lyzeum nach Lötzen, und auch Mohr musste notgedrungen mit in Pension gehen. Gehrkchen hatte nicht die Lehrbefähigung bis zur „Mittleren Reife“, somit waren die Schwestern nur noch in den Ferien zu Hause. Das war eine sehr große finanzielle Belastung für die Eltern. Dann erkrankte Mohr wohl mit 12 Jahren an einem Anflug von Tuberkulose, so dass sie lange Zeit liegen musste. Da wurde im Winter dasBett – sie lag in Muttis Wunderbett – an das offene Fenster geschoben, von dort ausbeobachteten wir beide, wie die Frühbeete mit Pferdemist ausgestreut wurden. Das tat man, damit sich unter der darüber liegenden Erde Wärme entwickelte, so konnte man das Gemüse schon vorziehen, bis man die Pflanzen ins Freie brachte. Die Vegetationsperiode war in Ostpreußen nicht so lang wie hier im Westen, dem musste Rechnung getragen werden.

Mohr musste dann ca. ein Jahr die Schule versäumen, somit hatten wir wieder eine Hauslehrerin, ein Fräulein Sanne (Sannekin genannt), die nun den Unterricht erteilte, außerdem konnte sie wunderbar Klavier spielen. Ich wünschte mir immer den Marsch „Alte Karbonaden“, unter „Kameraden“ konnte ich mir nichts vorstellen. Gern saß ich unter unserem schwarzen Flügel, dort fühlte ich mich geborgen, spielte mit meinen Puppen und konnte die Puppenkleider im Holzgestell des Flügels verstecken, das waren meine Schränke. –

Auch Sanna war einmal an schwerem Gelenkrheumatismus erkrankt und lag in Muttis Wunderbett, Kopf und Fußende ließen sich so verstellen, dass man bequem im Bett sitzen konnte, das war die Besonderheit.

Immer wenn wir krank waren, durften wir in diesem Bett liegen. Sanna musste von Kopf bis Fuß gewaschen werden, da sie sich lange Zeit nicht bewegen konnte, und als ihre ersten Schamhaare wuchsen, fragte ich sie, ob sie „Federchen bekäme“, ich war eben ein Landkind. Mutti las ihr viel vor, besonders die Bücher von der Johanna Spyri, die es auch heute noch gibt.

In den Karpfenteichen, die mein Vater angelegt hatte, gingen wir zum Baden, auf meinem sehr zahmen Lieblingspferd, der Himmelsziege – sie hatte eine weiße Blesse – durfte ich dann durch den Weidegarten reiten, es kümmerte sich eben jeder um die Kleinste. In dem großen Garten durften wir alles essen, nichts war uns verboten, Mutti hatte uns kleine Säckchen genäht, da wurde zuerst alles hineingestopft, dann kletterten wir auf einen Baum und konnten in Ruhe futtern. Selbst der wilde Rhabarber war uns nicht zu sauer.

In der Schmiede war es besonders interessant, wenn die Pferde beschlagen wurden, außerdem faszinierten mich das große offene Feuer und der riesige Amboss. Unser Schmied war ein Freund von mir, weshalb ich mich dort auch aufhalten durfte. Stellmacherei, Ställe, überall konnten wir herumstreichen, eigentlich war uns nichts verboten, meine Eltern waren da sehr großzügig. Unsere „Instleute“ hatten immer ein besonderes Auge auf uns, damit den Kindern von der „Herrschaft“ ja nichts passierte. Einer unserer Gespannführer, Theo, war immer bereit, mich mitzunehmen, entweder auf dem Wagen oder ich ritt auf einem seiner Gespannpferde.

Wenn am Abend die Hühner und Enten in den Stall gebracht wurden half ich gern, ich konnte schon recht gut „fühlen“ – d.h. alle Tiere, die ein Ei legen würden, wurden über Nacht gesondert eingesperrt, damit am Morgen die Eier auch gefunden wurden, die Hühner allerdings hatten ihre Legenester. Alle Enten und Hühner hatten farbige Schilder an ihren Flügeln mit Nummern, jede Farbe entsprach einem Jahrgang, so dass man erkennen konnte, wie alt die Tiere waren und wann sie geschlachtet werden mussten, weil ihre Eierkapazität erschöpft war. All dieses wurde von meiner Mutter selber überwacht, so wie überhaupt im Haushalt alles gut organisiert und geordnet war. Sie war morgens mit die Erste aus dem Bett und abends die Letzte, die zu Bett ging. Sie verlangte von ihrem Personal nicht mehr, als sie auch selber bereit war zu leisten.

2. Teil

Wir hatten vor dem Haus einen riesengroßen Sandhaufen (Sandkiste), da habe ich mal aus Wut meine Schwester Sanna so unglücklich mit der Schaufel getroffen, dass sie eine große Platzwunde über dem Auge hatte, die eine sichtbare Narbe hinterließ. Damals habe ich von meiner Mutter meine erste richtige Prügel bezogen, mit der Reitpeitsche. Mutti besaß sie noch aus der Zeit, da sie selber noch geritten war, sie hing immer im Kinderzimmer an der Tür – stets griffbereit. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, daß ich Dresche bekam.

Eines Tages war ich – entgegen allen Verboten – aufs Feld gegangen, es war Roggenernte und ich wollte mit einem „Fuder“, welches eingefahren wurde, wieder nach Hause mitfahren. Ich suchte den Gespannführer „Theo“, ich wusste, er würde mich mitnehmen. Die Wege zum Hof waren trocken und holperig und es gab da eine scharfe Kurve, somit bestand die Gefahr, ein vollgeladener Wagen könnte umkippen. Da die vierspännigen Fuder sehr viel höher geladen werden durften als eins mit nur 2 Pferden, war die Maßgabe für mich, nur mit einem kleinen Fuder nach Hause zu kommen. Aber wie das dann so ist, es war kurz vor dem Abend und ein kleines Fuder fuhr nicht mehr. Theo nahm mich dennoch mit, aber das Unglück wollte es, dass wir tatsächlich umkippten und ich unter dem Getreide lag. Gott sei Dank war mir nichts passiert, Theo hatte mich natürlich sofort gesucht und auch befreit, aber plötzlich war mein Vater zur Stelle und das war mein Schaden. Nun war mein Ungehorsam nicht mehr zu verheimlichen, die Tracht Prügel war fällig. Ich werde es in meinen Leben nicht vergessen, denn ich hatte nur einen Badeanzug an, da es ein heißer Tag war.

Ein anderes Erlebnis, welches mir haften geblieben ist, ereignete sich mit unserem Milchfuhrwerk. Die Milch musste jeden Morgen nach dem Melken zur Molkerei gefahren werden, das tat der Milchkutscher. Mein Vater war ja für Experimente zu haben, und so züchtete er nicht nur schwarze Schweine, sondern ließ auch den Milchwagen von unserem Bullen ziehen, das war schon eine Seltenheit. Gewöhnlich waren die Biester so wild und unberechenbar, dass sie nur mit der Stange an dem durch die Nase gezogenen Ring geführt werden konnten. Alles ging wohl auch eine Zeitlang ganz gut, bis der Bulle eines Tages das Eisentor zur Gutshausauffahrt mitsamt dem gemauerten Pfosten umriss. Ich habe es selber mit angesehen, daher ist es mir erinnerlich. Danach, glaube ich, wurde dann doch ein Pferd vor den Wagen gespannt.

In vielen Dingen war mein Vater im Gegensatz zu anderen Gutsbesitzern recht fortschrittlich, so hatten wir, ich erwähnte es schon, elektrisches Licht, wir hatten ein eigenes Transformatorhäuschen, auf anderen Gütern wurden noch bis 1945 Petroleumlampen benutzt. Auch die Karpfenteiche waren so eine „fortschrittliche Marotte“, ich glaube nicht, dass er mit den sieben von ihm angelegten Teichen einen Profit gemacht hat. Auch gab es für das Wasser im Haus und in den Ställen eine elektrische Pumpe, sie war in einem eigens dafür gebauten Häuschen untergebracht. Obwohl nicht mehr die Pferde die Pumpe bedienten, – ein sogenanntes Göpel – sprachen wir immer noch vom „Roßwerk“. In vielen Gutshäusern war es noch üblich, dass Erwachsene, Kinder und das Personal unterschiedlich gekochtes Essen bekamen, auch das ist nur aus den Standesunterschieden zu erklären. Aber das darf man nicht mit heutigen Augen sehen, selbst der Nationalsozialismus hatte an den festgefügten Strukturen noch nicht viel ändern können.

Meine Mutter setzte sich zwar nicht einfach über die gegebenen sozialen Unterschiede hinweg, aber alles, was sie tat, war von Menschenfreundlichkeit geprägt, die ihr überall viel Respekt und Ehrerbietung einbrachte. Sie war das ausgleichende Moment in meinem Elternhaus, denn auch mein Vater konnte mit lauter Stimme durchs Haus und über den Hof brüllen, wie das wohl – mit wenigen Ausnahmen – alle Gutsbesitzer konnten. Die Kluft zwischen der „Herrschaft“ und dem Personal war sehr groß, das kann sich ein nach 1945 geborener Mensch, der in der Demokratie aufgewachsen ist, wohl kaum vorstellen.

Die Mahlzeiten waren im allgemeinen eine „heilige Handlung“, sie verliefen nach einem strengen Ritual. Alle Teilnehmer warteten hinter dem Stuhl, bis meine Mutter kam und die Auflassung zum Setzen gab. Sie reichte dann die Schüsseln herum und niemand fing an zu essen, bevor nicht alle die Speise auf dem Teller hatten. Wir Kinder durften nicht ungefragt bei Tisch sprechen, mußten unsere Teller nicht nur leeressen, sondern auch a l l e s was auf den Tisch kam. Falls es uns nicht schmeckte oder wir ungehorsam waren, wurden wir auf die Treppe geschickt, dort saßen wir dann bis der Teller leergegessen war.Im Sommer halfen uns auf der Verandatreppe manchmal die Hunde! Meine Mutter hob auch die Tafel auf, wir durften nicht früher aufstehen, es sei denn, wir hätten ausdrücklich die Erlaubnis dazu bekommen. Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten war absolute Pflicht, aber das Essen war in meinem Elternhaus auch immer pünktlich auf 15 dem Tisch. Wir hatten große Angst, uns zu den Mahlzeiten zu verspäten, im schlimmsten Falle – trotz Entschuldigung bei Mutti – mussten wir hungrig bzw. ungegessen wieder von dannen ziehen. Wie oft bin ich am Abend vom Spielen zu spät nach Hause gekommen und musste hungrig ins Bett gehen, da gab es kein Pardon.

Die ersten 7 Jahre meines Lebens verbrachte ich in Waldhausen, ich war von allen Seiten beschützt und geborgen, bis auf ein Ereignis, welches mir später immer viel Gelächter eingebracht hat. In der Mittagszeit mussten wir bei Wind und Wetter an die frische Luft gehen. Es war Winter, Gehrkchen hatte mich angezogen, mir meine rote Teufelskappe (Strickmütze) aufgesetzt, und wir gingen vor die Küchentür. Da sie etwas vergessen hatte, blieb ich allein draußen zurück. Plötzlich kam unser Hahn auf mich zu – er war wohl durch die rote Mütze irritiert und gereizt worden – krallte sich an meinem Mantel fest und hackte mir ins Gesicht. Ich konnte vor lauter Schreck gar nicht schreien, aber Gott sei Dank kam Gehrkchen noch zur rechten Zeit, sonst hätte der Hahn mich wohl übel zugerichtet. Sein Leben war nun allerdings besiegelt, er wurde s o f o r t geschlachtet und landete im Topf. Ich wurde von Mutti verbunden, und damit war die Sache erledigt, kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, mit mir zu einem Arzt zu fahren. Später aber hieß es dann „die Bärbel ist vom Hahn gehackt“. Eine gute Hausapotheke sowie Kenntnisse in „Erste Hilfe“, waren für eine Gutsfrau notwendig und selbstverständlich. Es gab natürlich Möglichkeiten zu verunglücken, so war es uns verboten, zu dicht an die recht tiefe Jauchegrube (Gülle) heranzugehen, wir hätten unbemerkt hereinfallen und ertrinken können. Auch in den Ställen war es für uns Kinder gefährlich, da war der Bulle, dem wir nicht zu nahe kommen durften. Aber Kinder lieben die Gefahr, und so balancierten wir auch auf den hohen Balken in der leeren Scheune. Anscheinend hatten wir aber alle einen besonderen Schutzengel, denn ich kann mich nicht besinnen, daß zu meiner Kinderzeit etwas Ernstliches passiert wäre.

3. Teil

Eine der Abwechslungen auf den Gütern war der „Besuch“. Entweder war es Nachbarschaft, die mit eigenem Fuhrwerk kam, oder aber der Besuch kam aus der Stadt, das war natürlich noch interessanter. Er wurde von der Bahn abgeholt, und wenn genügend Platz im Wagen war, durfte ich auch mitfahren bis Weißenburg. Hatte der Gast vielleicht sogar noch frische Brötchen mitgebracht, dann war das ganz besonders schön.

Wenn wir Besuch hatten, gab es immer etwas Aussergewöhnliches zu essen. Neben dem Dicken Reis waren Waffeln mein Leibgericht, die wurden bei solchen Gelegenheiten in einem Waffeleisen auf offenem Herdfeuer gebacken (einen elektrischen Herd hatten wir nicht) und schmeckten wundervoll. (Auch heute gehören sie noch zu meinen Leibgerichten). Dass man die Löcher mit Zucker füllen konnte, war das Beste daran. Außerdem wurde dann die große Kaffeemaschine angestellt, es roch nach Bohnenkaffee, für gewöhnlich wurde in Waldhausen nur Mischkaffee getrunken, „Bremer Halb und Halb“ stand auf den großen Dosen, die wir wahrscheinlich aus Bremen geschickt bekamen.

Bei Abendgesellschaften wurden Krebse serviert, man warf sie lebend in kochendes Wasser, sie waren eine Delikatesse. Es wurden extra Krebsmesser benutzt, um die Scheren zu öffnen, dazu kleine Schälchen mit Wasser für die Hände vor jeden Platz gestellt, und es gab besondere Servietten, da Krebse Flecken machen. Dann wurde bei solchen Gelegenheiten der Samowar (russischer Heißwasserbereiter) angezündet, den Vati von seinem Aufenthalt in Kurland während des Krieges mitgebracht hatte. Dazu war dann ein passender Tisch mit Messingplatte gearbeitet worden, dazu Messinguntersätze für Teegläser. Tee-Extrakt wurde in einer Extrakanne gebrüht und das heiße Wasser dann im Glas dazugegossen.

Die Mädchen (Stubenmädchen) hatten zum Servieren schwarze, bzw. dunkle Kleider an und eine weiße Schürze um. Es wurde von Tisch aus zur Küche geklingelt, und das war das Signal für das Personal, die Speisen aufzutragen oder abzuräumen. In Waldhausen wurde bei jeder Mahlzeit von der Hausfrau zur Küche geklingelt, da stand niemand auf, um das Essen zu holen oder abzuräumen. Der Tisch war immer vollständig gedeckt mit Tellern, Ess- und Vorlegebestecken sowie mit Servietten, und jeder hatte seinen festen Platz, da durfte nichts fehlen. Mein Vater schöpfte die Suppe auf und stand dazu auf, er saß am oberen Ende des Tisches und meine Mutter rechts neben ihm. Nach jedem Mittagessen bekam meine Mutter einen Handkuß von meinem Vater und ein Dankeschön für das gute Essen. Mein Vater aß gern und wohl auch recht viel, ich habe ihn recht dick in Erinnerung.  Gebetet wurde bei Tisch in meinem Elternhaus nicht.

Bei besonderen Anlässen, wo auch getanzt wurde, trugen die Damen sogar lange Kleider, mein Vater besaß m.E. einen „Cut“ und einen „Frack“ für festliche Gelegenheiten, dazu natürlich einen Stresemann. In meinem Elternhaus zeugte alles von einer gut bürgerlichen und gediegenen Wohlhabenheit, da war nichts übertrieben und wir Kinder fühlten uns sehr wohl. Alles, was wir Kinder brauchten, war vorhanden, für die Oberbekleidung sorgte eine Schneiderin, die Wäsche wurde wohl bei Wertheim (jüdisches Versandgeschäft) in Berlin immer gleich im Dutzend gekauft – so erzählte es jedenfalls Gehrkchen. Da wir 4 Schwestern waren, konnte auch alle Bekleidung „heruntergeerbt“ !! werden, so habe ich viele, viele Jahre nur geerbte Sachen tragen müssen, sehr zu meinem Leidwesen.

Natürlich hatten wir auch jede Art von Spielsachen, da fehlte es an nichts, Puppen, Puppenstube, Puppenmöbel, richtiges Geschirr aus Porzellan, einen Herd für Brennspiritus, worauf man richtig kochen konnte. Größtenteils waren diese Sachen noch aus Muttis Elternhaus. Herrliche Bauklötze aus Stein und Holz, das waren Riesenkästen, ich wußte nicht, was uns gefehlt hätte. All dieses ist dann in Pr. Eylau auf dem Speicher den Russen in die Hände gefallen.

Was mein Vater uns nicht erlaubte, war das Reiten mit Sattel und Steigbügel. Es war wohl keine Gelegenheit für uns da, guten Reitunterricht zu bekommen, aber der Hauptgrund war m.E. sein eigener Sturz mit dem Pferd, der wohl traumatisch für ihn gewesen sein muß. Meine Mutter ist wohl als junge Frau noch im Damensattel geritten, hat es dann aber später aufgegeben, auch habe ich meinen Vater nicht mehr zu Pferde erlebt. In unserem Haus gab es auch eine Spieluhr, runde Metallplatten mit Widerhaken liefen über eine Walze mit Stimmzungen, und jedes Häkchen erzeugte einen Ton. Wir hatten wohl insgesamt 50 Platten, teilweise Walzer zum Tanzen, aber auch Volkslieder. Wir Kinder durften diese Spieluhr benutzen, sie war etwa so groß wie seinerzeit die ersten Fernseher und war mit einer Kurbel aufzuziehen. Großen Spaß machte es uns, sich nach der Musik mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen im Kreis zu drehen, bis wir schwindelig wurden. Das war in Muttis großem Damenzimmer auf dem grünen Teppich ein herrliches Vergnügen. Dann ließen wir uns auf den Boden fallen und fanden es himmlisch, wenn es im Bauch so schön kribbelte. Es kam schon mal vor, dass von den Blumentöpfen, die auf einem großen Birkenständer deponiert waren, einer zu Boden fiel und zu Bruch ging, aber Mutti hat eigentlich nie besonders geschimpft. Jedenfalls ist es mir nicht erinnerlich. Böse wurde sie nur, wenn wir versuchten, sie zu belügen. Außerdem ließ es sich bei der Musik träumen, vom Rumpelstilzchen und Dornröschen. Von beiden nahm ich an, daß sie in unseren Bodenkammern wohnen, jedenfalls stellte ich mir es so vor. Ich habe damals schon mit Mutti Walzer tanzen gelernt, sie brachte es uns mit viel Geduld bei.

Im Zuge der Selbstversorgung musste ja im Winter auch mal ein Schwein geschlachtet werden, das wurde in der Waschküche besorgt. Ich war ein richtiges Landkind und hätte liebend gern mal zugesehen, wie das Schlachten geschieht, aber leider durften wir das nicht sehen. Wir hörten zwar das Ouietschen der 17 Schweine, aber dabei sein durften wir nicht. Mit einem großen Vorschlaghammer wurden die Tiere betäubt, dann wurde die Schlagader angestochen, damit sie ausbluteten. Sofort musste das Blut gerührt werden, um die Gerinnung zu verhindern, denn das Blut wurde zum Herstellen von Blutwurst und „Schwarzsauer“ verwandt – Letzteres mochte ich nicht. Das ist eine Blutsuppe mit Backobst und Klößen. Den Hühnern und Hähnchen hat meine Mutter selber den Kopf abgehackt, wenn es die Mamsell (Köchin) nicht machen wollte. Enten und Gänsen wurde an einer bestimmtem Stelle in den Kopf gestochen, und auch das Blut wurde aufgefangen und verwandt. Die Fische aus unseren Karpfenteichen hat Mutti auch selber geschlachtet, da stach man in die Kiemen. Auch das Töten der Tiere mussste fachgerecht vorgenommen werden. Ich durfte dabei allerdings immer zusehen und fand alles ganz normal, was es ja auch war. Die Nutztiere mussten zu unserer Ernährung dienen.

Aber nicht nur dieses beherrschte Mutti, sie war auch firm im Schneidern, Nähen, Flicken. Sie lernte die Hausmädchen an und sorgte täglich für einen reibungslosen Ablauf der notwendigen Arbeiten in Haus und Garten. Für die Außenwirtschaft war n u r mein Vater zuständig. In früheren Jahren hat Vati noch Rehe, Hasen, Fasanen und Rebhühner selber geschossen, aber zu meiner Kinderzeit mochte er das nicht mehr, er hatte keinen Spaß mehr am Jagen. Große Aufregung gab es nur, wenn sich ein Fischreiher sehen ließ, Vati fürchtete um seine Karpfen und Schleie in den Teichen. Da benutzte er dann schon ab und an mal eines seiner Gewehre. Der Gewehrschrank in Vatis Arbeitszimmer war a b s o 1 u t e s Tabu für uns Kinder, da durfte auch niemand anderes herangehen, da hätte er keinen Spaß verstanden.

4. Teil

An meinen Vater habe ich aus der Waldhauser Zeit kaum eine Erinnerung, ich sehe ihn zwar vor mir, aber er trat in keiner besonderen Weise für mich in Erscheinung. Zumindest hatte er an meiner Erziehung keinen direkten Anteil – so jedenfalls erscheint es mir in der Rückschau. Wir hatten großen Respekt vor ihm, aber ich denke, für mein Leben war er damals nicht sehr bedeutend. Zuständig waren für mich und meine Erziehung in erster Linie Mutti, dannGehrkchen bzw. zeitweise Sannekin – die Hauslehrerinnen.

Da ich gern und lange am Daumen gelutscht habe, fing Gehrkchen an mich zu „zerjen“ (ärgern), sie erhob ihren rechten Daumen und sagte: „Bärbchen, mein Daumen“, ich rief dann wütend zurück: „Nein, mein Daumen“ und so ging das Spielchen hin und her, bis ich in Tränen ausbrach, aber nicht begriff, dass es wirklich ihr Daumen war. Ich muss da wohl noch recht klein gewesen sein, aber an den Zorn, den ich hatte, kann ich mich gut besinnen. Wenn ich mal weinte und gar nicht mehr zu beruhigen war, oder vielleicht auch anderen Kummer hatte, kam Gehrkchen um meine „Schraube“ festzuziehen. Das bedeutete, daß sie an meinem Rücken eine angebliche Schraube wieder festdrehte, damit ich wieder artig wurde, was auch funktionierte. Später hat man mich immer damit geärgert, daß man mich an meine „Schraube“ erinnerte.

Gehrkchen war recht streng, aber ich habe das in Waldhausen nicht so zu spüren bekommen, ich war noch zu klein und ging auch noch nicht zu ihr in den Unterricht. Das kam erst später, als ich im April 1932 schulpflichtig wurde. Gehrkchen war dann wieder bei uns und unterrichtete meine Schwester Mohr und mich – es kann aber auch sein, daß Ursel und Mohr zu der Zeit schon nach Sensburg in die Schule fuhren.

Im November 1932 zogen wir dann fort nach Pr. Eylau, es waren also nur 7 Monate, dass ich Privatunterricht hatte. Der Unterricht fand im Schulzimmer statt, ich saß Gehrkchen gegenüber und lernte das Lesen, Schreiben und Rechnen. Früher hatte ich ab und an beim Unterricht der großen Schwestern zuhören dürfen, daher weiß ich, daß die Hühner mit den Körnern auch Steine aufpikken, um ihren Magen zu scheuern.

Außer an die längeren Krankheiten meiner Schwestern Sanna und Mohr, die mit Bettlägerigkeit verbunden waren, habe ich keine besonderen Erinnerungen an meine großen Schwestern. In den Ferien durften sie länger aufbleiben als ich und spielten „Berliner Anschlag“ ums Haus, wenn es schon dunkel wurde. Ich hörte das in meinen Bett und war traurig, daß ich nicht mitspielen durfte. Mohr hatte sich mal in den Sommerferien Freundinnen aus Sensburg eingeladen. Sie fanden es herrlich, alles so ungeniert im Garten zu essen, darunter auch grüne Johannisbeeren und Stachelbeeren. Danach gingen sie dann zum Baden in einen unserer Karpfenteiche. Die Folge davon war, dass alle, einschließlich Mohr, an einem ruhrähnlichen Durchfall erkrankten. Mutti konnte gar nicht schnell genug alle versorgen. So ist das, wenn Stadtkinder aufs Land fahren und die dortigen Gefahren nicht kennen.

Wenn unsere Hengste zur Körung gebracht werden mußten, das war eine Art Zuchtschau, wo auch Preise vergeben wurden, mußten sie ganz besonders schön zurechtgemacht werden. Das Fell wurde glänzend geputzt, die Mähne zu Zöpfen geflochten. Dabei durften wir Kinder helfen, besonders ein „Brauner“ namens Bubi ließ sich das gern gefalllen. Unsere Gespannführer pflegten die ihnen anvertrauten Pferde gut, Vati achtete sehr darauf, daß kein Tier geschlagen oder gequält wurde, so ging er selber auch mit unseren Hunden um. Katzen gab es bei uns nicht, Mutti mochte keine Katzen, sie war kein Freund von dem „Schleichen“.

Einen Urlaub im heutigen Sinne haben sich meine Eltern nie gegönnt, das Geld war sicher nicht der Hinderungsgrund, sie hatten gar kein Bedürfnis, für längere Zeit fortzufahren. Die Landwirtschaft war an die Jahreszeiten gebunden und man ließ seinen „Betrieb“ nicht allein. Selbst zur „Grünen Woche“ nach Berlin ist m.E. mein Vater nicht gefahren, Berlin war zu weit weg und lag im „Reich“, wie es bei uns hieß. Wir waren vom übrigen Reich abgeschnitten d.h. durch den polnischen Korridor getrennt.

Ein Erlebnis besonderer Art ist mir in Erinnerung, die Zigeuner – die es damals noch gab – kamen nach Waldhausen. Ich war wohl davon überzeugt, dass Zigeuner Kinder stehlen, besonders blonde Mädchen. Außerdem natürlich Geflügel und alles, was nicht niet- und nagelfest war. Das alles bezweifle ich zwar heute, aber ich hatte große Angst vor den Zigeunern, und unsere Instleute auch. Ich war wohl vier oder fünf Jahre alt und kochte mit meinem blauen Emaille- Puppengeschirr an der Rückseite des gemauerten Herdes meine Grießsuppe. Plötzlich ging die Tür auf und die Zigeuner standen in der Küche. Männer, Frauen und wahrscheinlich auch Kinder. Die Zigeuner fuhren damals mit Wohnwagen herum, die von Pferdchen gezogen wurden. Für gewöhnlich trieben unsere Instleute in aller Eile Enten, Gänse und Hühner in den Stall und kamen dann zum Gut, um die Zigeuner zu melden. Das war diesmal nicht der Fall gewesen, und so wurden wir überrascht. Sofort wurde meine Mutter gerufen, sie sollte das Schlimmste verhüten. Bevor ich das Geschehen begriffen hatte, gab es keine Möglichkeit zu entrinnen – trotz großer Angst. Ich war wie versteinert. Die Zigeuner bettelten um Geld, Lebensmittel und was sie sonst noch brauchten. Sie wurden hingehalten, weil man auf meinen Vater wartete, es war nach ihm geschickt worden, damit er dieses „lästige Pack“ mit Drohungen und Gebrüll aus der Küche und vom Hof vertreiben sollte. Wir versuchten darüber zu wachen, dass nichts gestohlen wurde, denn die Zigeuner arbeiteten nicht und mussten irgendwie ihr Leben fristen. Mutti ließ sich dann aus der Hand lesen, um die Frauen abzulenken. Ich fürchtete nicht nur, evtl. mitgenommen zu werden, sondern bangte auch um mein schönes Puppengeschirr. Was meiner Mutter da prophezeit wurde und ob es jemals  eingetroffen ist, weiß ich nicht, sie nahm es wohl nicht sehr ernst. Schließlich kam mein Vater, schwang seinen Krückstock und brüllte, dass die Wände wackelten, schlug auch mit dem Stock zu, so dass die Zigeuner unter Fluchen, Verwünschungen und Schimpfen den Hof verließen. Wenn meine Schwester Mohr sich einen Spaß machen wollte, dann verkleidete sie sich als „Zigansche“ und erschreckte damit unsere Instleute, so dass sie in Panik und Angst ihr Geflügel einsperrten und alle Türen hermetisch verschlossen. Ich sehe dieses alles noch genau vor mir, später bin ich nie wieder Zigeunern begegnet.

Mein Vater muß wohl sehr unglücklich darüber gewesen sein, daß ihm eine Tochter nach der anderen geboren wurde, bei meiner Schwester Mohr hatte er es wohl noch hingenommen. Tante Mohrchen soll ja so schwarz behaart gewesen sein, als sie geboren wurde, so daß Vati ausgerufen hat: „Das ist ja ein Mohrchen“, weshalb sie diesen Namen behalten hat und überall so gerufen wurde. Als ich nun geboren wurde, konnte er sich mit der vierten Tochter nicht mehr so ganz abfinden. Wieder war es kein „Stammhalter“, deshalb wurde ich kurzerhand von ihm „Hermännchen“ genannt, da ich auf den Namen Hermann getauft werden sollte, benannt nach meinem Großvater Hermann Fähser aus Norkitten. Fast his zu meinen 6. Lebensjahr wurde ich also von ihm Hermännchen genannt, er dachte sich wohl nichts dabei. Ich war gar nicht begeistert darüber und habe es mir dann später verbeten. Töchter galten damals noch immer nicht so viel wie Jungen, man ist versucht, sich ins Alte Testament zurückversetzt zu fühlen.

Auchgab es in dieser Zeit nicht die Möglichkeit, bei der Heirat als Frau seinen Namen zu behalten, ebenso war es kaum möglich, einen Doppelnamen zu bekommen. Derartige liberale Möglichkeiten wurden gar nicht in Erwägung gezogen

5. Teil

Nun will ich noch etwas von unseren Instleuten erzählen. Sie wohnten in den Insthäusern (Leutehäusern), wovon es zwei in Waldhausen gab. Es waren etwa 10 Familien, die zum Gut gehörten; die Männer waren Gespannführer (ein Gespann bestand aus 4 Pferden), für die sie verantwortlich waren. Dann gab es den Verantwortlichen für die Viehherde (den Oberschweizer) mit seinen Hilfskräften (den Unterschweizern), den Verantwortlichen für die Schweinezucht, den Stellmacher, den Schmied und den Kutscher. Letzterer betreute die Kutschpferde und die entsprechenden Kutschwagen, außerdem putzte er im Haus die Schuhe und war auch sonst für zuverlässige Arbeiten zur Hand. Er trug bei besonderen Anlässen einen besonderen Rock auf dem Kutschbock, bzw. einen Pelz im Winter und eine Mütze. Er hatte für die verschiedenen Kutschwagen zu sorgen, sie zu putzen und die Geschirre in Stand zu halten.

Soweit ich weiß, hatten wir mindestens 5 verschiedene Wagen für die unterschiedlichen Anlässe. Zum Besuch am Sonntag fuhr man mit einem anderen Wagen als am Alltag zur Bahn oder vielleicht Einsegnung oder Hochzeit. Außerdem waren diverse Schlitten für den Winter vorhanden. Meist hatten die Familien mehrere Kinder. Sie arbeiteten zur Erntezeit schon mit, und die Jungen wurden nach der Schulentlassung einfache Arbeiter.
Die Mädchen gingen als Scharwerkerinnen oder als Stuben- bzw. Küchenmädchen in „Stellung“, entweder bei uns oder auch woanders.

Die Wohnungen bestanden aus einer Wohnküche und einem Zimmer, meist der „Guten Stube“. Wo die ganze Familie schlief, ist mir bis heute verborgen geblieben, aber wahrscheinlich „auf der Lucht“, d.h. unter dem Dach. Ich glaube nicht, daß sie alle eigene Betten hatten, die Kinder zumindest schliefen zu  mehreren in einem Bett zusammen. Auch hatten sie kein fließend Wasser, eine Pumpe war für  alle da, das Wasser mußte mit einer „Pede“ (Trageholz) in Eimern getragen werden.

In dem von meinem Vater erbauten neuen Leutehaus waren neben der Küche schon zwei Räume vorhanden. Außerdem hatte jede Familie einen Stall für Kuh und Schwein und einen Schuppen für Brennholz.

Zur Erntezeit arbeitete die ganze Familie auf dem Feld mit, die kleineren Kinder brachten das Vesperbrot, meist mit Rührei und ausgelassenem Speck belegt und dazu eine Kanne mit Malzkaffee. Zu gern aß ich auf dem Feld mit, denn so ein „Vesperbrot“ kriegten wir zu Hause nicht. Der Abstand zur „Herrschaft“ war zu gewaltig, und wer zur Herrschaft gehörte, arbeitete normalerweise nicht auf dem Feld mit. Nur im Haus 20  und im Garten war das gestattet.

Ich muß es noch einmal wiederholen, unser Leben war festgefügt, die Eltern hatten eine bestimmte Stellung und unsere Erziehung war vorgegeben von der Gesellschaftsschicht, in der wir lebten. Natürlich war sie geprägt von den preußischen Tugenden (die auch heute noch ganz gut zu brauchen wären), allerdings nicht in ihrer Absolutheit. Meine Eltern lebten es vor, darüber hat es nie einen Zweifel gegeben. Obwohl wir von 1918 bis 1933 eine demokratische Verfassung hatten, waren sich die Eltern sicher nicht darüber im klaren, was es heißt, ein „Demokrat“ zu sein. Das wollten sie wohl auch garnicht, sie waren im Innersten ihres Herzens nach wie vor kaisertreu, und offensichtlich erschien ihnen – wie vielen anderen Menschen damals auch – diese Weimarer Republik nicht sehr vertrauenswürdig. Selbst an meine Schwester Mohr habe ich nicht viel Erinnerung aus dieser Zeit, obwohl wir uns ein Kinderzimmer teilten.

Die Jahre in Waldhausen kommen für mich heute der Vorstellung vom Paradies gleich. Ich wuchs in der gehobenen Gesellschaftsschicht mit Privilegien auf. Heute ist vielleicht manches verklärt und daher in meiner Erinnerung sehr viel schöner, als es in Wirklichkeit war. Mit dem Verkauf von Waldhausen begann für uns alle ein völlig neues Leben, ein Leben in der Kleinstadt.

Besonders meine Eltern und meine älteren Schwestern haben den Umzug als schmerzlich empfunden. Ich dagegen ging in eine richtige Schule, hatte plötzlich Schulfreundinnen, außerdem eine Badeanstalt und vieles andere mehr. Für mich gab es viel Neues und auch Schönes, es war keine so große Umstellung. Der größte Teil der Möbel wurde zu Spottpreisen  verkauft, es war kein Platz dafür in der Stadtwohnung. So ging wieder ein Teil von Muttis Vermögen fort und ich glaube, es hat ihr sehr weh getan. Sie sprach nie darüber, wie auch nach der Flucht 1945 nie eine Klage von ihr zu hören war. Mutti schaute nach vorn und zu dem, was nun zu tun war.

6. Teil

Waldhausen wurde im November 1932 – also kurz vor der Machtergreifung Hitlers – zwangsverkauft. Die genauen Gründe, die dazu führten, sind mir in den Einzelheiten nicht bekannt, aber es werden wohl mehrere gewesen sein. Mein Vater hatte in Pr. Eylau eine Kohlenhandlung mit Möbelspedition, bahnamtlichem Rollfuhrunternehmen und mit ein paar Morgen Landwirtschaft gekauft. Für meine Eltern war es zum dritten Mal der Aufbau einer Existenz. Die Aktien meiner Mutter bei der Waggonfabrik Steinfurt waren noch zur Waldhauser Zeit verkauft worden. Ich glaube nicht, daß die Eltern noch über viel Vermögen verfügten.

Nachdem der Umzug vonstatten gegangen war – ich war während der Zeit in Pfaffendorf bei Kaims untergebracht worden – kam ich an einem Wintertag im November in Pr. Eylau an. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben mit der „großen Eisenbahn“ gefahren, schon das war ein Erlebnis. Ich sehe diesen Tag noch wie heute vor mir, an der Hand von Mutti ging ich durch die Hauptstraße vom Bahnhof zu unserer neuen Wohnung. Ich sah die erleuchteten Schaufenster der Läden, die es in der Königsberger Straße gab, und war von den vielen Lichtern fasziniert. Es war wohl fast Abendbrotzeit, daher schon dunkel, und ich spürte, daß nun für mich ein völlig neues Leben in einer ganz anderen Welt begann. In dem Mehrfamilienhaus, in dem wir nun wohnten, lebte ein Schornsteinfegermeister Geißler mit seiner Frau und seinen Kindern. Die Tochter Ilse wurde für die gesamte Schulzeit meine beste Freundin, und sie ging auch mit mir in eine Klasse.

Unser neues Domizil war sehr eng, abgesehen davon, daß wir es ja nicht gewohnt waren, in einer Mietwohnung zu leben. Das WC war auf dem Treppenflur, es gab kein Badezimmer und auch nur eine sehr primitive Küche. Ich fand das zwar alles gar nicht so schlimm, aber für meine Eltern muß das schon schrecklich gewesen sein. Es war wirklich nur eine kleinbürgerliche Bleibe, und wir waren dort alle nicht sehr glücklich. Ihr könnt Euch das sicher gar nicht vorstellen, aber Pr. Eylau war eine ganz kleine Kleinstadt mit damals ca. 5.000 Einwohnern, Sensburg hatte wohl 12.000 Einwohner gehabt. Wir saßen mit den großen Möbeln, die für diese Enge viel zu üppig waren, auf engstem Raum mit 6 Personen zusammen, 3 1/ 2 Zimmer waren es wohl. Es ist mir gar nicht mehr bewußt, wo wir eigentlich alle geschlafen haben, ich glaube, ich mußte mit einer Couch Vorlieb nehmen.

Aber bereits nach 5 Monaten konnten wir umziehen, und zwar von der Domnauer Str. 10 in die Herbert-Neumann-Str. 2, Telefon 222. Dort wohnten wir bis zur Flucht im Jahre 1945, dort war ich nun zu Hause. Ich lebte gern in Pr. Eylau, hatte meine Freundinnen und von dem politischen Umschwung durch den Nationalsozialismus spürte ich nichts. Ich wurde in die erste Klasse der Volksschule eingeschult, wir waren ca. 40 Mädchen in der Klasse. Damals wurden Jungen und Mädchen noch streng getrennt unterrichtet.

Ilse Geißler nahm mich am Morgen mit in die Schule und dort wurde ich von meiner Lehrerin, Fräulein Buchholz, sehr freundlich begrüßt. Nicht nur in den Klassen waren wir von den Jungen getrennt, auch auf dem Schulhof bewegten sich die Jungen und Mädchen je auf einer Hälfte des Hofes. In meiner Klasse befanden sich sämtliche Mädchen aus der Stadt, die das erste Schuljahr besuchten. (Tante Erna Pickert war eine Klasse höher). Pr. Eylau war ein „Nest“ – kleinbürgerlich und wohl auch spießig. Mein Vater machte noch den Versuch, bei den umliegenden Gütern „Besuch“ zu machen, um einen gesellschaftlichen Verkehr anfangen zu können. Die meisten Gutsbesitzer im Krs. Pr. Eylau waren aber adelig, außerdem war mein Vater eben kein Gutsbesitzer mehr, sondern nur ein kleiner Kaufmann, mit dem verkehrte man nicht. Auch das war eine wohl schmerzliche Erfahrung für ihn, obwohl ich weiß, daß auch er seinerseits wiederum nicht ohne weiteres bereit war, sich mit Pr. Eylauer Kaufleuten anzufreunden, was er auch bis zuletzt nicht getan hat. Es hatte ja schon genügt, daß jemand Sozialdemokrat war, ein Sozi, um von meinem Vater geschnitten zu werden.

Als später Pr. Eylau Garnisonsstadt wurde, versuchte er es noch einmal, gesellschaftlichen Anschluß bei den Offizieren zu bekommen, aber auch das gelang nicht. Zwar wurde damals nicht so viel darüber gesprochen, aber ich weiß es aus späteren Erzählungen von Mutti, daß es s e h r mühevoll für die Eltern gewesen ist, sich in Pr. Eylau einzuleben, heimisch waren sie dort wohl nie. Für mich allerdings war diese Kleinstadt herrlich, ich genoß die Möglichkeiten, die sie zum Spielen bot. Es ging uns ja finanziell immer noch viel besser als vielen Familien in Pr. Eylau. In meiner Klasse waren überwiegend Kinder aus armen oder doch ärmeren Familien, auch aus dem Waisenhaus. So viele gut situierte Familien gab es gar nicht. Ich konnte am Nachmittag zu meinen Freundinnen zum Spielen gehen, zum Baden, im Winter zum Rodeln und Schlittschuhlaufen. Außerdem lernte ich schon gleich im ersten Sommer das Radfahren und Schwimmen.

Bis nach der Flucht war Ilse meine beste Freundin, dann allerdings, im Jahre 1946, schrieb sie mir, daß sie ein Kind von einem Engländer erwartete, da habe ich die Freundschaft aufgekündigt. Dieses Vergehen, sich mit einem Engländer eingelassen zu haben, war für mich damals unverzeihlich. Ein uneheliches Kind zu bekommen, war schon schlimm, aber dann auch noch von einem Besatzungssoldaten!!! Das konnte ich nicht überwinden von der damals schon propagierten „Fraternisation“ hielt ich nicht viel.

Nach 40 Jahren habe ich sie dann in Verden auf einem Heimattreffen wiedergesehen und konnte diese Sache mit ihr bereinigen. Dabei erzählte sie mir dann, daß ihre Mutter sie gezwungen hätte, diesen Mann auch zu heiraten – die Eltern waren streng katholisch. Sie hatte inzwischen versucht, das Beste aus der Sache zu machen. In meinem Elternhaus hörte ich oftmals den Satz: „Bringt mir keinen Ausländer oder Katholiken ins Haus“, gemeint war natürlich ein entsprechender Ehemann. Das war für mich ein ungeschriebenes Gesetz geworden. Es war schon recht großzügig von meiner Mutter, daß ich so viel in das katholische Elternhaus von Ilse gehen durfte. Ich war dort schon fast wie zu Hause, ich fühlte mich unter den vielen Kindern (mittlerweile waren es sieben) sehr wohl. Ich wäre also n i e auf den Gedanken gekommen, mich mit einem Ausländer, geschweige denn mit einem Besatzungssoldaten einzulassen.

7. Teil

Meine Lehrerin in den ersten vier Grundschuljahren war Fräulein Buchholz, m.E. eine sehr gute, wenn auch recht strenge Lehrerin, aber das war zu der Zeit ja nichts besonderes. Zumindest aber konnten wir nach dem 4. Schuljahr lesen, schreiben und die vier Grundrechenarten. Somit konnte ich dann die Mittelschule (heute Realschule) besuchen, dieses war nicht allen Kindern vergönnt, denn das kostete Schulgeld, während die Volksschule kein Geld erhob. Die Eltern hatten in Lötzen für meine Schwestern nicht nur Schulgeld zahlen müssen, sondern auch den Aufenthalt in einer Pension. Viele Witwen, die nur eine kleine oder auch gar keine Versorgung hatten, nahmen gern – es war meist die einzige Verdienstmöglichkeit – Pensionäre auf. Alle Kinder der größeren Güter, die die höhere Schule besuchen sollten, mußten mit 10 Jahren in Pension gehen, es sei denn, es bestand die Möglichkeit, die Kinder zu Hause entsprechend zu unterrichten. Aber die Prüfungen mußten vor einer staatlichen Kommission abgelegt werden.

Diese Pensionen waren nicht gerade immer kinderfreundlich und auch meine Schwestern fanden es in Lötzen nicht unbedingt wunderbar. Es gab auch keine Lehrmittelfreiheit, alle Bücher, Hefte und andere notwendige Dinge für die Schule mußten von den Eltern bezahlt werden.

Die Volksschule lag am anderen Ende von der Stadt, ca. 1 1/2 km Fußweg, die Mittelschule war nur 5 Minuten um die Ecke. Im Sommer fing die Schule um 7.10 Uhr an, im Winter um 8.00 Uhr. Wenn es dann im Winter noch dunkel war und manchmal Frost bis zu 20°, mußten wir uns schon recht warm anziehen für den langen Weg. Wir hatten Kaninchenfelle, die man über den Kopf streifen konnte und die unter den Wintermantel gezogen wurden, da waren Brust und Rücken sehr schön warm. Hosen (außer pludrigen Trainingshosen) gab es damals für Mädchen noch nicht, wir trugen dicke Wollstrümpfe und hohe Schnürschuhe gegen den Schnee. Ich hatte ein grünes, gestricktes Bleylekleid für die Schule und natürlich immer eine Schürze um. Für damalige Verhältnisse gingen wir gut und wohl auch teuer angezogen, auf meinem Wintermantel war immer ein Pelzkragen, daran konnte man schon das „Honoratiorenkind“ erkennen. Mädchenschuhe hatten Ösen für die Schnürsenkel, Jungenschuhe Haken, ich hätte im Leben keine Jungenschuhe angezogen!

Fräulein Buchholz liebte ich sehr, obwohl auch ich einmal mit dem Rohrstock geschlagen worden bin. Die ganze Klasse hatte mal über sie gelacht, da wurde beim Rohrstock niemand ausgenommen. Da sie meist den Stock als Zeigestock benutzte, war sie aus Versehen damit in ein offenes Tintenfaß gekommen (die Fässer waren in die Schulbänke eingelassen). Die Tinte spritzte im hohen Bogen, und wir lachten respektlos, daraufhin gab es einen Hieb über die Hand. Überhaupt spielte der Stock eine erhebliche Rolle in der Schule, für mehrmals nicht gemachte Schularbeiten gab es Hiebe, manchmal auf die Handfläche, bei größeren Strafen über die Fingerspitzen.

Fräulein Buchholz ging immer sehr schick angezogen, ich bewunderte sie sehr. Vor allem war sie elegant angezogen, so etwas gab es sonst in Pr. Eylau kaum, meine Mutter war zwar immer gut angezogen, aber nicht im Sinne von elegant. Ich kann mich bis heute auf die Kleider von Frl. Buchholz besinnen.

Wir hatten Schiefertafeln und mußten immer fleißig „Schönschreiben“ in Sütterlinschrift üben. Überhaupt wurde auf die Rechtschreibung sehr großen Wert gelegt. Auch Nachsitzen mußten wir oder bekamen Strafarbeiten auf, wenn es notwendig erschien. Daran nahm niemand Anstoß, sowie auch das Schlagen mit dem Stock niemanden empört hätte. In meinem Zeugnis stand immer „Bärbel ist schwatzhaft und vorlaut“. Ansonsten brachte die Schule für mich weder besondere Freuden noch Probleme, weshalb ich im einzelnen auch nicht so viel Erinnerungen habe, zumindest nicht an die ersten vier Grundschuljahre.

Paradiesisch waren für heutige Verhältnisse für uns die Spielmöglichkeiten. Zuerst auf dem Hof hinter unserer ersten Wohnung „Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann“ oder auf dem Schulhof „Mütterchen darf ich“. Als ich dann größer wurde, wurde die Umgebung erobert. Im Winter, bedingt durch das ostpr. Klima und den vielen Schnee, begann das Rodeln bzw. Schlittschuhlaufen auf dem Langen See. Es waren größere und kleinere Berge in und um die Stadt. Teils haben wir am Abend Wasser auf unsere Rodelbahn gegossen, um am nächsten Tag eine Eisbahn zu haben, auf der wir dann auf einer Kehrrichtschaufel herunter rutschen konnten. Oder wir gossen in den Schulpausen Wasser auf den Schulhof, damit wir dann eine gefrorene „Schlidderbahn“ hatten. Die Winterfreuden waren vielfältig und teils auch beschwerlich, denn der Lange See war nur in ca. 20 bis 30 Minuten Fußmarsch zu erreichen. Da waren die Füße dann oftmals schon kalt, bis wir angekommen waren. Auch war es mühsam, die Schlittschuhe anzuschnallen, Eislaufstiefel hatten wir nicht. Wenn wir dazu auch noch den „Nudler“ (Schlüssel zum Festdrehen der Schlittschuhe) vergessen oder im Schnee verloren hatten, dann war das alles bei 10 bis 15 ° Frost eine Körperertüchtigung besonderer Art. Mich hat das alles aber nie verdrießlich gemacht.

Der höchste Berg war die „Napoleonskiefer“, von dort aus soll Napoleon in der Schlacht bei Pr. Eylau am 7./8. Februar 1807 die französischen Truppen geleitet haben. Er lag ca. 3 km von meinem Elternhaus entfernt. Dorthin gingen wir zeitweise zum Rodeln und auch später zum Skilaufen. Etwa um 3.00 Uhr nachmittags hatte ich meine Schularbeiten fertig, dann machte ich mich auf, mußte aber pünkt1ich um 7.00 Uhr abends wieder zu Hause sein, denn dann gab es Abendbrot. In diesen 4 Stunden hatte ich mich dann auch müde getobt und war entsetzlich durchgefroren und hungrig.

Im Sommer dann das Baden im Warschkeiter See mit seiner einmaligen und modernen Badeanstalt, die sich noch heute sehen lassen könnte. Dort gab es einen Sprungturm mit mehreren Sprungbrettern bis zu einem 5m-Brett, vom Geländer waren es wohl 6 m (da wagte ich auch noch herunterzuspringen). Ganz große Jungen von der Aufbauschule sprangen vom Dach, etwa 8 m hoch, das taten sie mit einem Regenschirm als Attraktion. Es gab große Grünflächen zum Spielen und ein Sonnenbad, ein mit Erdwällen umgrenztes Gelände, welches mit weichem und weißem Sand aufgefüllt war. Hier traf man sich am Nachmittag, es war wie am Strand an der See. Wir nannten das Sonnenbad „Haskekaul“, weil ein Bürgermeister Haas es hatte anlegen lassen. Ich bekam von meinen Eltern in jedem Jahr eine Jahreskarte für die Badeanstalt, Preis glaube ich 6,- oder 10,- RM, und damit konnte ich die Kabinen zum Umziehen benutzen und durfte mich den ganzen Tag dort aufhalten. Schwimmunterricht habe ich nicht gehabt, wir lernten das von den größeren Mädchen, die brachten uns das bei. Mit 3 Schwimmstößen konnte man „im Tiefen“ die ersten Leitern erreichen. Wer das geschafft hatte, konnte bald darauf auch sein Freischwimmen machen.

Nachdem auch ich mich freigeschwommen hatte, brauchte sich meine Mutter keine Sorgen mehr zu machen. Es gab zwar einen Bademeister – im Krieg versahen die Schüler der Aufbauschule diese Arbeit – aber offiziellen Schwimmunterricht gab es nicht. Eine große Attraktion waren zwei hölzerne Baumstämme im Wasser, auf denen man sitzen konnte. Es war ein Heidenspaß, wenn die großen Jungen sich auf diesen Baumstamm stellten und ihn unter Wasser drückten, dann fielen wir herunter. Sobald er wieder an die Oberfläche kam, begann das Spielchen von vorn. Außerdem wurde der Baumstamm gern gedreht, dann konnte man sich nicht darauf halten. Wie oft habe ich diese Stämme von der anderen Uferseite des Sees geholt, wenn sie dorthin abgetrieben worden waren; immerhin brauchte man ca 30 Min., um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. In meiner Erinnerung hatten wir immer schönes Wetter, so daß es sowohl im Sommer als auch im Winter genug Möglichkeiten zum Sporttreiben gab. Außerdem hatten wir in der Volksschule eine große und gut ausgestattete Turnhalle und auch einen ausgezeichneten Turnunterricht

8. Teil

In den Jahren von 1932 bis 1936 – ich verließ die Volksschule nach Grundschuljahren – war mein Leben in rechter Geborgenheit mit den Eltern und Geschwistern verlaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubten wir noch – bis auf einige wenige Ausnahmen – daß es nun mit Deutschland bergauf gehen würde. Es gab wieder Arbeit, und von den schon damals sichtbaren Machenschaften der Nazis, drang nicht so sehr viel bis zu uns nach Ostpreußen. Inwieweit die Eltern politisch weit- blickend waren, kann ich nicht sagen, zumindest sprachen sie nicht darüber. Allerdings hat mein Vater sich bis zuletzt gesträubt, in die NSDAP einzutreten, und es auch nicht getan. Er war Mitglied des nationalkonservativen Frontkämpferbundes „Der Stahlhelm“ gewesen, der 1935 aufgelöst worden war. Wie weit die Eltern zu der Zeit schon das Unheil kommen sahen, ist mir nicht bekannt.

Als ich dann auf die Mittelschule kam (frühere private Mädchenschule), war auch ich nun mit Jungen in einer Klasse. Die Schülerzahl war immer zu gering gewesen, weshalb man auch Jungen erlaubte, diese Schule zu besuchen. Ab 1936 war es keine Privatschule mehr, sondern eine städtische Mittelschule. In der Abschlußklasse waren wir dennoch nur 9 Mädchen und 5 Jungen. Die einzigen Jungen, die ich bisher gekannt hatte, waren Ilses Brüder gewesen und die Spielfreunde aus der Lochmannstr. In dieser kleinen Nebenstrasse, sie verlief hinter unserem Wohnhaus, standen Wohnhäuser mit Mietwohnungen von Arbeitern und kleinen Beamten. Sie hatten teilweise nur eine Küche und eine Stube. Drei größere Bauplätze waren noch frei, später wurden auch sie bebaut. Das Gelände fiel sehr steil zu einem stark fließenden Bach ab, der auch im stärksten Winter nicht richtig zufror. Dort hatten wir einen idealen Rodelberg, Schnee gab es immer genug. Um nicht im Bach zu landen, bauten wir aus Knüppeln und Schnee eine kleine Brücke, da konnte man hinüberrodeln. Sehr breit war die Brücke nicht, da landete schon mal jemand im Graben. In dieser Straße wohnten eine Menge Kinder, im Sommer spielten wir auf der Straße Völkerball, es fanden sich leicht am Nachmittag zwei Mannschaften zusammen. Leider säumten Rotdornbäume die Straße, so daß unsere Gummibälle sehr oft in den Stacheln ein jähes Ende fanden. Mehrmals spendierte Mutti uns einen neuen Ball, die anderen Kinder waren teilweise sehr arm. Auch ein Mädchen aus meiner Klasse wohnte dort, Margot Stephan hieß sie. Der Vater war verkrüppelt, er hatte wohl die „Englische Krankheit“ (Rachitis) gehabt; früher sprach man nicht von „Behinderten“.

Margot, zwei Jungen und ich, wir hatten uns aus Schnee einen Iglu gebaut und überlegten, was wir nun wohl spielen könnten. Da kamen wir auf die Idee, ein Loch zu buddeln und hineinzupinkeln. Das war wohl eine große Sache, denn ich besinne mich darauf noch genau, wir waren wohl alle so 8 Jahre alt. Einer der Jungen, Ernst mit Vornamen, Enner genannt, hatte meine ganze Sympathie, und wir wagten es im Winter im Dunkeln untergehakt spazieren zu gehen. Gott sei Dank hat uns meines Wissens keiner gesehen, es hätte Folgen haben können. Es gehörte sich erstens sowieso nicht und zweitens schon gar nicht mit einem Arbeiterkind so zu verkehren. So streng waren damals die Sitten. Diese ganzen Spielfreundschaften verloren sich später, da ich die Einzige war, die mit 10 Jahren eine „höhere Schule“ besuchte. Mehr oder weniger hatten sich die Freundschaften auf der Straße abgespielt. Bei den anderen Kindern war in der Wohnung kein Platz und ich brachte diese Kinder nicht mit nach Hause, dazu war der soziale Unterschied zu groß. In der Herbert-Neumann-Str. bewohnten wir 3 große Zimmer (Schlaf-, Eß- und Wohnzimmer), außerdem hatte die Wohnung eine Veranda, die allerdings nicht heizbar war. Dazu Küche, Bad, Flur und im 2. Stock zwei kleine Mansardenräume. Eigentlich waren sie als Dienstmädchenzimmer gedacht, aber unser Mädchen schlief zu Hause. Die Eltern wohnten in einer kümmerlichen Kellerwohnung, der Vater war Korbmacher und blind. Die Familie, die über uns im ersten Stockwerk wohnte, hatte kein Mädchen, so konnten wir beide Zimmer bewohnen, dort schliefen meine Schwestern. Sanna war wohl nicht mehr zu Hause, sie hatte eine
Schneiderlehre in Königsberg angefangen. Leider mußte sie diese Tätigkeit wegen ihrer Kurzsichtigkeit abbrechen. Es war ein großer Wunsch von ihr gewesen, hatte aber erhebliche Kämpfe mit Vati gekostet, bis sie endlich die Erlaubnis dazu bekam. Ich schlief noch sehr lange im elterlichen Schlafzimmer, wohl bis zu meinem 12. Lebensjahr. Ich würde das keinen Eltern empfehlen, aber unter den damaligen Umständen war es wohl nicht anders möglich.

Durch das Erlebnis im Iglu, und sicher auch schon vorher, war ich darauf gekommen, Jungen und Mädchen sahen unterschiedlich aus. Wir wurden zu damaliger Zeit – wenn man nicht gerade Brüder hatte – sehr vom anderen Geschlecht ferngehalten, das prägte sich mir ein. Ich hatte immer das Gefühl, Männer bzw. Jungen sind etwas, womit man sich eigentlich nicht beschäftigen bzw. einlassen dürfte. Es ist fast wie Ironie des Schicksals, daß wir nun drei Söhne haben. Dennoch war ich neugierig geworden, was mich dazu veranlaßte, oftmals am Abend, wenn mein Vater um 9.00 Uhr schlafen ging, einfach mal zu blinzeln, wenn er sich auszog. Zu meinem großen Leidwesen habe ich ihn niemals nackend gesehen. Wir wurden, der Zeit entsprechend, sehr leibfeindlich erzogen. Alles, was unterhalb des Bauchnabels war, war ein Tabu. Darüber sprach man nicht, um so größer war natürlich das Interesse. Meine Freundin Ilse und ich holten uns mit Begeisterung die Bücher der großen Maler aus dem Bücherschrank. Besonders auch Bilder biblischer Themen, weil da schon ab und an mal ein nackter Mann zu sehen war. Außerdem bemerkte ich, daß sich zwischen meinen Eltern etwas abspielte, was ich nicht deuten konnte. Dieses Erlebnis war m.E. für mein weiteres Leben und meine Entwicklung nicht gerade zuträglich. Vielleicht hat auch dieses alles zu der Antipathie meinem Vater gegenüber beigetragen, aber das sind Vermutungen, beweisen kann ich es nicht.

Inzwischen war ich seit meinem 8. Lebensjahr einmal im Jahr zu Besuch bei meiner Großmutter, – angefangen hatte es mit ihrem 80. Geburtstag – und dabei war es zu den ersten mißbräuchlichen sexuellen Kontakten mit einem älteren Verwandten gekommen, so daß sich bei mir um alles „Männliche“ ein Schleier von Geheimnis, Neugierde, ambivalenter Gefühle und Empfinden legte. Ich wagte es niemandem zu sagen, da ich nicht wußte, wie ich es es ausdrücken sollte, Worte kannte ich für diese Dinge nicht. Etwa bis zu meinem 12. Lebensjahr lutschte ich – des Nachts – am Daumen, Mutti versuchte immer wieder, es mir abzugewöhnen. Da sich meine Vorderzähne schon verschoben, wurden mir des nachts Handschuhe angezogen und dieselben zugebunden, so daß ich diese nicht abstreifen konnte, aber es war ohne Erfolg. Auch strich sie mir Myrrhentinktur auf den Daumen, das Zeug schmeckte gallebitter, auch das half nichts

9. Teil

Ich spielte sehr gern und ausgiebig mit Puppen, in unserem Wohnzimmererker hatte ich eine große Puppenecke, dazu die schönen Puppenmöbel von Mutti, wie Schrank, Tisch, Bank und 2 Stühle, ein Bett und einen 4-flammigen Spiritusherd. Zum Kochen durfte ich mir dann 125gr Klopsfleisch (Bratenmett) kaufen, so daß es eigentlich immer Nudelsuppe und Bratklopse gab. Ilse genoß das Spielen, ohne die vielen Geschwister, augenscheinlich sehr bei mir. Da ich so gern kochte, habe ich oftmals das Abendbrot vorbereitet, wir aßen damals kein Brot, sondern es wurde immer ein warmes Essen hergerichtet. Das waren die verschiedensten Kartoffelgerichte (Schmor-, Brat-, Stuk-, Buttermilch-, Sahne-, Kräuterkartoffeln und vieles andere mehr). Milchsuppe war auch mal dran, aber die kochte ich nicht, da ich sie nur mit größter Überwindung essen konnte. Überhaupt ist meine Abneigung gegen Milch his heute geblieben. Mutti erzählte, daß ich meine Flasche als Kind n u r mit etwas schwarzem Tee zu mir nehmen wollte.

Zu schön war es für mich und Ilse, wenn wir uns „verkleiden“ durften. Wir zogen die Kleider von meinen Schwestern an, da gab es einen großen Koffer mit abgelegten Sachen auf dem Boden. Da waren u.a. auch Büstenhalter, die wir anprobierten und sehr enttäuscht waren, wenn sie immer noch nicht passten. Oder aber wir nahmen uns Kleider von Mutti, auch das durften wir. Ich steckte mir dann die Haare auf, ich hatte ja lange dunkelblonde Zöpfe. Ilse trug damals schon einen Bubikopf, ich hätte mir wohl kaum die Haare abschneiden lassen dürfen. Das Waschen der Haare war eine schreckliche Prozedur, nachher beim Kämmen ziepte es entsetzlich, Gott sei Dank wusch man mir nur alle 4 Wochen die Haare. Meine Bekleidung wurde kaum neu gekauft, meist mußte ich von meinen drei älteren Schwestern die Kleider nachtragen, sie wurden solange aufgehoben, bis ich hineingewachsen war. Ab und an nähte mir Mutti oder eine Hausschneiderin ein neues Kleid, fertig gekauft wurde da eigentlich nichts. Schuhe allerdings bekam ich ab und an mal neu. Zuerst wurden sie in Pr. Eylau gekauft, später dann fuhren wir nach Königsberg. Strapazierfähige Schuhe für Kinder kosteten damals ca. 8,– bis 10,– RM, aber es gab auch billigere. In Königsberg „kaufte man bei Jacobi „- da hat auch Euer Vater seine Schuhe verpaßt bekommen. In diesem Geschäft wurde man von einer Dame mit langem schwarzem Rock und weißer, hochgeknöpfter Bluse empfangen, einem Fräulein Friebe. Als ich dann im Jahr 1943 auf der Mädchengewerbeschule war, durfte ich auch schon allein Schuhe kaufen – wenn ich einen Bezugsschein hatte -, denn auf Fräulein Friebe war Verlaß. Sie kannte alle
Fabrikate, kannte sämtliche Kundschaft, und unsere Eltern verließen sich auf ihre Empfehlungen. Ich bekam dort einmal eine blaue Sandalette mit roten Riemchen, Kostenpunkt 18,– RM, und Mutti kaufte sich ein Paar Goldkäferschuhe zum Tanzen und für Gesellschaften für 36,– RM. Das entspricht etwa einem heutigen Preis von DM 180,– bzw. DM 360,-.

Ab und an gingen wir auch in Königsberg zu Gebrüder Siebert, einem Bekleidungsgeschäft, da wurden dann Wintermäntel oder auch mal ein Faltenrock gekauft. Im übrigen wurde „aus alt mach neu“ genäht, dafür gab es Hausschneiderinnen. Sie kamen zu uns ins Haus, bekamen neben ihrem Verdienst noch Essen und Trinken. Ich kann mich an ein Fräulein Urban entsinnen, sie sang immer fromme Lieder mit lauter Stimme. Sie gehörte wohl einer besonderen Glaubensgruppe an, es gab in Pr. Eylau neben der evang. Landeskirche noch Baptisten, Methodisten, eine kleine katholische Gemeinde und vielleicht sogar noch mehr.

Diese Frauen kamen und besserten alles aus, nähten neu und flickten. Meine Schwester Ursel fuhr mal – ich glaube 1937 – zu einem Familientag nach Berlin, da wurde tagelang nur für sie Garderobe genäht. Die Stoffe waren in Königsberg eingekauft worden – Samt und Seide – sie bekam einen langen schwarzen Rock und eine hellblaue Bluse, jedenfalls war alles sehr schick und modern. Mein Vater war von den Hausschneiderinnen nicht sehr begeistert, sie aßen bei uns am Tisch mit und das störte ihn wohl, jedenfalls nutzte er die Gelegenheit, um mal auswärts zu essen. Er ging dann zum Wirt „Krahnke“, eine Ausspannwirtschaft, und aß dort Königsberger Fleck

10. Teil

Weihnachten war immer ein Fest, auf das ich mich schon lange vorher freute. In Waldhausen war es der Riesentannenbaum gewesen, der mir so viel Eindruck gemacht hatte. Weihnachten in Pr. Eylau war anders, aber nicht weniger faszinierend. Zwar hatte ich gerade Wochen vorher Geburtstag, aber Weihnachten war etwas Besonderes. Da mein Geburtstag schon immer in die Adventszeit fällt, hatten alle Kinder am Nachmittag beim Kaffeetrinken ein kleines Engelchen mit Kerze vor ihrem Platz stehen, das war besonderes feierlich an diesemTag, so etwas hatte kein anderes Kind aus meiner Freundschaft. Außerdem spielte Mutti mit uns die auch von Euch so geliebte Kartenlotterie, es war immer ein festlicher Geburtstag.

Sehr oft hatte ich schon mal nachgeguckt, was ich wohl geschenkt bekommen würde. Ich wußte, wo Mutti die Geschenke aufbewahrte, nämlich in der untersten Schublade einer Herrenkommode im elterlichen Schlafzimmer. Wenn Mutti nach Königsberg gefahren war, um Einkäufe zu machen, war sie ja den ganzen Tag fort. Vati war im Geschäft und unser damaliges Mädchen Anna hatte auch zu tun, so daß ich ungestört kramen konnte.

Von meinen Schwestern war auch ab meinem 12. Lebensjahr keine mehr ständig zu Hause. Ich hatte zwar immer Herzklopfen dabei, aber die Neugierde war zu groß. Einmal hatte ich mir eine Uhr gewünscht, die ich auch fand, aber sie lag zum Geburtstag nicht auf dem Gabentisch, sondern erst zu Weihnachten, da war ich sehr traurig, durfte aber natürlich nichts sagen. Obwohl ich nicht den Eindruck hatte, daß meine Geschenke wegen des an Weihnachten so naheliegenden Geburtstapes geteilt wurden, hatte mein Vater für mich den „Sommergeburtstag“ eingeführt. Damit ich auch ja nicht zu kurz kommen sollte, machte er mir am 3. Juni ein Geschenk. So erhielt ich von ihm einmal eine Lederbüchertasche mit 2 Griffen, das war eine Mädchentasche, ein andermal ein Fahrrad, ich konnte mich also nicht beklagen.

Aber zurück zu Weihnachten. Meine Geschwister waren zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen aus dem Haus gegangen. Ursel 1937, sie hatte bis dahin bei Vati als Buchhalterin gearbeitet, sich aber dann doch wohl wegen zu großer Unstimmigkeiten von zu Hause getrennt. Sannchen war auf mehreren Gütern als Haustocher tätig gewesen, bis sie endlich anfangen konnte, in Königsberg  Kinderschwester zu lernen (sie mußte dazu damals 21 Jahre alt sein). Mohr hatte in Schneidemühl eine Haushaltungsschule besucht, um dann auch auf ein Gut zu gehen, da sie nicht wußte, was sie lernen wollte bzw. sollte. Später dann begann sie als Apothekenhelferin in der Pr. Eylauer Apotheke zu arbeiten. Aber zu dieser Zeit wohnte sie auch nicht mehr bei den Eltern, sondern bei Nachbarn, wo sie sich mit einer Freundin zusammen ein großes Zimmer gemietet hatte. Ich war also in den Jahren von 1937 bis 1942 mehr oder weniger allein zu Hause. Mohr und „Pünktchen“, so nannten wir die Freundin, kamen zwar noch zum gemeinsamen Mittagessen, manchmal auch zu den anderen Mahlzeiten, aber im großen und ganzen lebten die beiden Freundinnen für sich.

Den ganzen Heiligabend war das Weihnachtszimmer verschlossen – wie immer – man hörte es nur rascheln, wenn Mutti darin wirkte. Aber meine Schwestern kamen zu Weihnachten nach Hause, darauf freute ich mich, ich wartete auf dem Bahnhof auf die Züge, so waren wir alle mal wieder beieinander. Vorher hatte ich schon bei der Weihnachtsbäckerei viel helfen dürfen, Honigkuchen, Marzipan, Zuckernüsse, kleine Pfefferkuchen, auch Konfekt wurde selber gemacht. Na überhaupt wir kauften keine Kuchen oder Süßigkeiten – außer Schokolade -, denn es war der Stolz der Hausfrau, alles selber herzustellen. Unsere Gabentische waren immer sehr reich gedeckt, besonders ein großer bunter Teller und das obligate Wunderknäuel waren sehr wichtig.

Auch unsere Dienstmädchen wurden beschenkt, sie waren zur Bescherung immer dabei und gingen erst später zu ihren eigenen Eltern oder Familien. Am Heiligen Abend gab es mittags nur eine Suppe und nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken gingen wir geschlossen in die Kirche, das war meist um 16.00 Uhr. die Kirche war alt, eine Ordenskirche wohl aus dem 13. Jahrhundert und entsprechend ausgestattet. Die Bänke waren hart und schmal, reich verzierte Emporen und ein großer mächtiger Altar. Die Kirche soll nicht mehr stehen, bzw. die Russen haben sie noch als Schuppen benutzt. Mutti und wir Kinder gingen immer sehr weit nach vorn, Vati hatte keine Haare, also eine Glatze, so daß er sich vor Erkältungen fürchtete, wenn er die  Mütze abnehmen mußte. Deshalb setzte er sich auf die Empore hinter die Orgel, damit er seine Pelzmütze – ohne Anstoß zu erregen –  aufbehalten konnte.

Endlich war die Kirche aus, durchgefroren und gelangweilt – ich verstand von der Predigt unseres Herrn Superintendenten Müller überhaupt nichts – gingen wir nach Hause, die Spannung war kaum noch zu ertragen. So um 18.00 Uhr dann kam der große Augenblick. Die Türen öffneten sich und das ganze Zimmer erstrahlte im Lichterglanz, nun wurde wie üblich wieder gesungen, wir brachten auf einem Plättbrett Muttis Gabentisch herein. Alles was wir gehandarbeitet hatten, lag darauf. Geld, um Geschenke zu kaufen, hatten wir nicht und es wäre uns auch im Traum nicht eingefallen, Gekauftes zu schenken. Ich glaube, für unseren Vater hatten wir gar keine Geschenke, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Er aß gern Schokolade und rauchte Zigarren.

Mich interessierte eigentlich immer nur mein Gabentisch und der bunte Teller, darauf freuten wir uns alle wie Schneekönige. Wenn wir dann spät abends zu Bett gingen, nahmen wir unsere bunten Teller mit ins Bett. Mein Vater hatte leider die Angewohnheit, von unseren Teller zu naschen, so daß das Beste dann am nächsten Tag fehlte. Ich glaube, das sollte ein „Späßchen“ sein, aber wir fanden das gar nicht lustig. Außer den schon genannten Dingen bekam ich meist eine neue Schürze – Mädchen trugen damals Schürzen – und andere Kleidungsstücke, Bücher und später dann auch schon eine braune Skihose. Pullover strickten wir uns selber, zunächst entweder Mutti oder Sanna, später konnte ich das dann auch unter ihrer Anleitung selber.

11.Teil

Der weihnachtliche Kirchgang gehörte wohl zu meinen ersten Bekanntschaften mit Gottesdienst und Kulthandlungen, es wurde regelmäßig am Abend mit mir gebetet, zuerst wohl „Lieber Gott mach mich fromm etc.“, später dann das Vaterunser – natürlich in der alten Fassung. Wie mein Vater zum Glauben stand, kann ich gar nicht beurteilen. (Ein kleines Aquarell unserer Pr. Eylauer Kirche hängt in unserer Diele). Die große Orgel hatte noch einen Blasebalg, der getreten werden mußte, und der Altar war mit einem großen Bild ausgestattet, ich meine, es war Jesus, der gen Himmel fuhr. Die adligen Großgrundbesitzer hatten auf der Empore links und rechts ihre abgeteilten, bestimmten „Sitzlogen“. Die durfte  niemand anderes betreten, es hatte alles seine Ordnung, da standen dann „von Oldenburg/Beisleiden“ oder ähnliche Namen dran.

Als ich größer wurde, ging ich ab und an mit Mutti zum sonntäglichen Gottesdienst, da ging es nicht so locker zu wie heute in der „Epi“. Auch gab es in der Kirche kein Klo, da hieß es 1 1/2 Stunden aushalten. Es war alles sehr gedämpft und bedrückend feierlich, die Gemeinde sang schleppend die Lieder zur Orgel, für mich damals ein schrecklicher Ohrenschmaus. Ich überlegte die ganze Zeit, warum da auf dem Altar eigentlich ein Mann am Kreuz hing. Ich meinte, da hätte man sich auch was Besseres ausdenken können, hätte aber nie gewagt, so etwas zu äußern, vielleicht wäre es ja auch ein Sakrileg gewesen.

Als ich dann zum Konfirmandenunterricht kam und auch im BDM war, fiel mir der 14- tägige Kirchgang schwer. Nicht nur aus den schon geschilderten Umständen, sondern, weil ich immer an unserem neuen Kino vorbeigehen mußte, das „Capitol“ hieß und am Sonntagvormittag dort für die Hitlerjugend – während der Gottesdienstzeit – sehr schöne Filme gezeigt wurden, die ich nun nicht sehen konnte. Eigentlich wäre das „Dienst“ und damit Pflicht für uns gewesen. Nun kam ich in einen Konflikt, aber ich hätte es nicht gewagt, statt in die Kirche, ins Kino zu gehen. Ich hatte zu sehr Angst, die Eltern könnten es merken, oder man würde es ihnen erzählen. Zu der Zeit fingen die kleinen Gewissensnöte an, denn auch ich war damals noch den Verlockungen der Nazis gegenüber sehr aufgeschlossen.

Wir hatten besagten Herrn Superintendenten Müller für die Kinder der Stadt und einen Herrn Pfarrer Braun, der für den Landkreis zuständig war. Nachdem 1939 der Krieg ausgebrochen war und Pfarrer Braun eingezogen wurde, lag alles in den Händen von Herrn Müller. Er war schon über 70 Jahre alt und hätte längst in Pension sein müssen. Wir mußten im Unterricht den kleinen Katechismus Luthers auswendig lernen, dazu viele Lieder und die Gebote mit Erklärungen. Heute weiß ich, daß der gute Mann nicht mehr die Kraft hatte, sich mit uns renitenten Konfirmanden, zumindest waren wir gegen die Kirche eingestellt, auseinanderzusetzen. Sicher wollte er sich in seinem Alter auch nicht mehr mit dem Staat anlegen.

Nach zwei Jahren wurden wir eingesegnet, das war für mich im Jahr 1942, so nannte man das bei uns. Eigentlich wollte ich mich gar nicht einsegnen lassen, aber Mutti bestand darauf, also mußte ich mich schicken. Zum Abendmahl ging ich dann aber nicht, ich ekelte mich vor dem Trinken aus „diesem einen Kelch“, und außerdem war mir sehr wohl bewußt, daß ich kein Christ war. Ich hätte zwar nicht ausdrücken können, was mir fehlte, denn die wesentlichen Dinge des Glaubens, die mit dem Namen Jesu zusammenhingen, waren uns m.E. nicht vermittelt worden. Ich wußte nichts von der Vergebung der persönlichen Schuld, von Bekehrung und Wiedergeburt. Ich erlebte das alles ohne innere  Anteilnahme, somit kann es auch sein, daß alles an meinen Ohren vorbeigerauscht ist. Auch Gottes Liebe blieb mir verborgen, das erfuhr ich alles erst mit 50 Jahren.

Aber zurück zum Eintritt in die Mittelschule 1936 und damit auch zur Aufnahme in die Hitlerjugend, für uns Mädchen nannte man das „Jungmädel“ (BDM- Bund deutscher Mädchen) das war die erste Stufe in der Hierarchie der Staatsjugend. Ich freute mich darauf, gab es da doch neben den Heimabenden am Nachmittag auch Schnitzeljagden, Sport und Spiel, dazu eine schöne Uniform. Braune Kletterweste, weiße Bluse und dunkelblauer Rock. Das Sportzeug war schick, weißes Turnhemd und schwarze Hose, vorn auf der Brust das Emblem der Hitlerjugend. Vom Widerstand gegen die Nazis hatte ich damals noch nichts gehört, obwohl wir ein Mädchen in der Klasse hatten, deren Vater aus Leer (Ostfriesland) nach Pr. Eylau strafversetzt worden war, weil er sich gegen die Nazis geäußert hatte. Er hatte sich dann später wohl mit polit. Äußerungen zurückgehalten, hörte aber immer Feindsender im Radio – was bei Strafe verboten war – und ist auch 1945 in Pr. Eylau geblieben. Er glaubte, ohne Argwohn die Russen begrüßen zu können, denn er war ja schon immer dagegen gewesen. Das Ende war, daß man ihn erschlug, seine Frau verhungerte, das jüngste Kind – damals noch keine 10 Jahre alt – versuchte nach Litauen durchzukommen. Es wollte etwas zu essen besorgen, wurde aber nie mehr gesehen, und eine andere Tochter wurde in den Ural verschleppt und ist da umgekommen.

Meine Schwester Ursel war vom Nationalsozialismus begeistert und daher auch BDM Führerin geworden. Es hatte da wohl Querelen um einen Führungsposten gegeben und irgend jemand wußte plötzlich, daß unsere Mutter – für die Nazis – nicht arischer Abstammung war. Schon im Jahre 1936 fing es an, daß man den „arischen Nachweis“ erbringen mußte, wenn man innerhalb der verschiedenen Parteiformationen in Führungspositionen aufrükken wollte. Natürlich waren die Querelen um meine Schwester ausNeid entstanden, denn wo kein Kläger war, war auch damals nicht unbedingt ein Richter. Aber nun waren die Dinge ins Rollen gekommen. Meine Mutter konnte angeblich diesen Nachweis für uns nicht erbringen, somit wurde ich nicht in die Jungmädel aufgenommen und Ursel nicht weiter befördert. Soweit ich weiß, soll sie noch persönlich an den Führer geschrieben haben, aber verbürgen will ich mich dafür nicht. Das Zerwürfnis mit meinem Vater hatte sicher auch in diesen unterschiedlichen politischen Auffassungen seine Ursache, außerdem war Ursel dann aus der Kirche ausgetreten.

Sie ging dann 1937 zum „Freiwilligen Arbeitsdienst“ und danach nach Lötzen, wo sie als Buchhalterin arbeitete. Aber natürlich hatte das alles eine Vorgeschichte gehabt. Ursel wollte nach der Mittleren Reife gern das Abitur machen, um Bibliothekarin zu werden. Das war Ostern 1932, gerade als die Eltern nicht mehr wußten, wie es mit Waldhausen weitergehen sollte. Deshalb wurde ihr dieser Wunsch nicht erfüllt. Daraufhin begann sie bei einer Familie Birken in Norkitten den Haushalt zu erlernen. Soweit ich weiß, hatte das Ehepaar sich bereit erklärt, Ursel die Schule zu ermöglichen. Sie wollten auch dafür sorgen, daß sie ein Studium als Bibliothekarin aufnehmen konnte. Aber auch das erlaubte Vati ihr nicht, statt dessen m u ß t e sie in  Königsberg für 3 Monate eine Handelsschule besuchen, um dann bei ihm als Buchhalterin zu arbeiten. Ursel hat das wohl nie recht verwunden und hat später immer versucht, doch noch zu einem anderen Beruf zu kommen.

Während des Krieges gelang es ihr dann, in Lauenburg/Pommern eine Kurzausbildung als Lehrerin zu machen. Aber die „Partei“ war nun auf uns aufmerksam geworden, und es ergaben sich dann später unselige Konflikte daraus. Dazu kam, daß Vati in Pr. Eylau zu den übrigen Kaufleuten keine guten Kontakte hatte. Am Ende dieser Entwicklung stand dann 1944 die Enteignung des 1932 übernommen Geschäftes. Zu allem Unglück hatte das Geschäft auch noch meiner Mutter gehört, sie war die Inhaberin gewesen. Der offizielle Name war „Gerhardt Nachflg., Inhaber Frau Susanne Fähser“. Wir konnten den nichtjüdischen bzw. arischen Nachweis nicht bis 1800 erbringen. Somit war ich stigmatisiert.

Damals gab es einen „Staatsjugendtag“, das war der schulfreie Sonnabend, an dem die Jungmädel Dienst hatten. Dieser Tag brachte für die anderen Klassenkameradinnen Spiel, Sport, Baden, Schnitzeljagden und es wurde auch gesungen und marschiert. Ich mußte also am Sonnabend in die Schule traben und in der letzten Klasse (Untersekunda hieß das damals) meine Stunden absitzen. Ich mußte entweder etwas abschreiben oder auch nur dem Unterricht zuhören. Ich habe damals viele bittere Tränen vergossen, ich konnte das alles nicht verstehen, und meine Eltern konnten es wohl auch nicht. In unseren Ahnenpapieren stand, daß die Vorfahren sich hatten taufen lassen, somit Christen geworden waren. Sie waren also „anständige Leute“, denn der Antisemitismus war keine Erfindung der Nationalsozialisten

12. Teil

Über die Juden geisterten die abenteuerlichsten Vorstellungen durch die Köpfe der Deutschen. Man traute den Semiten ja alles zu, Betrug, ja sogar Ritualmorde an kleinen Kindern, besonders an blonden Mädchen. Ich kann mich entsinnen, daß derartige Dinge in der Zeitung standen, und zumindest mein Vater sich nicht sicher war, ob es glaubwürdig sei oder nicht. Daß mein „Ausgeschlossensein“ ein rassisches Problem war, begriff ich zu der Zeit nicht. Da plötzlich die Abstammung – also das Blut – eine Rolle spielte, konnte auch die christliche Taufe nichts mehr retten, wir hatten ja eine „Blut und Boden-Ideologie“. Allerdings muß ich gerechterweise sagen, daß ich von keinem Kind aus der Klasse gehänselt oder beim Spielen gemieden worden wäre. Ich durfte nur nicht schulfrei haben, sondern mußte der Schulpflicht genüge tun. Ich litt unter dieser Situation und war in gewisser Beziehung zum Außenseiter geworden. Die Bluttheorie war für mich keine Erklärung, ich konnte mir darunter beim besten Willen nichts vorstellen.

Nach einem Jahr etwa mußte ich zur „Untergauführerin“ kommen (Untergau war die größte Verwaltungseinheit für den BDM in Pr. Eylau). Sie empfing mich persönlich und teilte mir mit, dass sich einiges geklärt hätte und ich in die Jungmädel aufgenommen werden könnte. Natürlich war ich begeistert, dass ich nun mit den anderen gleichgestellt war. Ich fand  die „Heimabende“ schön und vor allen Dingen den Sport. Wir hatten eine tolle Untergausportwartin – nach dem Krieg wurde sie Sportlehrerin in Horumer Siel, wo ich sie auch einmal besucht habe. Wir turnten bei ihr mit Begeisterung. Salto über den langen Kasten! mit 4 Hilfestellungen und Federsprungbrett war meine Glanzleistung, denn ich war klein und recht behende. Bei Festen im großen Saal des „Pr. Eylauer Hof“ haben wir das auch für die Gäste vorgeführt.

Lange dauerte diese Freude allerdings für mich nicht, denn nachdem ein weiteres Jahr vergangen war, mußte ich die Jungmädel wieder verlassen. Ich bekam die Mitteilung, dass ich in der Hitlerjugend nicht bleiben könne, Gründe wurden mir nicht genannt. Das war wieder eine bittere Pille für mich. Ich war also nicht würdig, zur Staatsjungend zu gehören.

Einen Trost allerdings gab es, der Sonnabend war nicht mehr Staatsjugendtag, sondern normaler Schultag. Der obligatorische Religionsunterricht entfiel auch, er wurde nur noch auf freiwilliger Basis erteilt. Meine Eltern hatten auf der Teilnahme bestanden, ich war nicht unbedingt begeistert davon, aber ich wehrte mich auch nicht dagegen.

Manchmal wäre ich lieber nach Hause gegangen, wie die Katholiken, die nicht daran teilnahmen. Der Unterricht war protestantisch. Ich meine, dass zu meiner Jugendzeit der christlichen Religion ein Hauch von Traurigkeit und Schwermut anhaftete. „Du sollst nicht“, „Du darfst nicht“, so nach dem Motto „Nimm Dein Kreuz auf Dich“, man muß alles selber tragen und ertragen. Offenbar hörte die Vermittlung des Glaubens mit dem Kreuzestod auf, Jesus hatte ja so am Kreuz gelitten, deshalb mußte man den Kopf senken. Irgendwo war der Knackpunkt der Erlösung, der nie deutlich wurde, nur man selber merkte die Diskrepanz zwischen dem zu hohen Anspruch der Kirche und dem eigenen Unvermögen, diesen zu erfüllen. Somit wandte auch ich mich später von der Kirche ab. Diesmal traf mich der „Rausschmiß“ aus den Jungmädeln sehr viel mehr, denn ich hatte die Gemeinschaft erfahren. Außerdem war ich stolz gewesen auf meinen blauen Rock, die weiße Bluse, die braune Kletterweste (aus einer Art englischem Leder) und natürlich den schwarzen Schlips und Lederknoten.

Besonders aber fehlte mir der Sport, der am Nachmittag entweder in der Turnhalle oder auf dem Sportplatz stattgefunden hatte. Sowohl die Turnhalle als auch der Sportplatz waren für diese Kleinstadt geradezu vorbildlich. Noch heute zehre ich von diesen sportliche Aktivitäten, die mir körperliche Kondition fürs weitere Leben verschafft haben.

Inzwischen war auch die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt worden, bislang hatten wir (lt. Versailler Vertrag) nur ein 100.000- Mann-Heer haben dürfen. Pr. Eylau war Garnisonstadt geworden, es waren Infanterie- und Artillerie Kasernen gebaut worden, dazu Häuser für die Offiziere und Unteroffiziere.

Seit 1935 erlebte unser Fuhrgeschäft einen großen Aufschwung, denn Steine, Sand und alle anderen Baumaterialien mußten mit Lastwagen herangefahren werden. In dieser Zeit hatte mein Vater 4 Lastwagen mit Anhänger laufen, um die Aufträge auszuführen, dazu einen kleinen Trecker. Die Lastwagen kamen von der Fa. Büssing NAG (Nürnberg-Augsburg) und ich weiß sogar noch die Autonummern. Pr. Eylau hatte die Nummern 27, 35 und 92 mit den entsprechenden 3 Ziffern dahinter.

Mein Vater war nach wie vor deutsch-national eingestellt und empfand es als große Genugtuung, daß Hitler die Schmach von Versaille offenbar zu einem Ende bringen wollte. „Mein Kampf“ hatten meine Eltern – soweit ich weiß – nicht gelesen und wenn, dann hätten seine Thesen das Vorstellungsvermögen meiner Eltern weit übertroffen. Niemals hätten sie – und viele andere auch – geglaubt, daß er die Juden wirklich vernichten wollte. Daß staatlich gelenkt eine Ausrottung schon vorbereitet wurde, konnte und wollte niemand glauben, augenscheinlich nicht einmal die Juden selber. Wieweit sich meine Eltern nur täuschten oder Geahntes nicht wahrhaben wollten, entzieht sich meiner Kenntnis. Vorerst wurde meine Vater – der Stahlhelmer gewesen war (konservativer Soldatenbund) – aufgefordert, in die NSDAP einzutreten. Er lehnte dies auf Grund seiner politischen Überzeugung ab, stellte sich aber nicht offen gegen die Nationalsozialisten. Das brachte die ersten Schwierigkeiten mit den Parteigenossen. Außerdem setzte er sich – wie ich schon erwähnte – nicht mit den Pr. Eylauer Geschäftsleuten zu einem Bier oder Kognak in den „Pr. Eylauer Hof“. Erstens trank er weder Bier noch Kognak, höchstens mal einen Grog von Rum, und zweitens waren ihm die Leute vielleicht auch zu „einfach“. Dieses alles brachte ihm nicht gerade viele Freunde in der Kleinstadt ein.

Meine Mutter dagegen war sehr viel anpassungsfähiger, sie schloß sich der Evang. Frauenhilfe an und ging auch ab und an zum Frauenkreis. Im Jahr 1936 oder 1937 zogen die ersten Infanteristen und Artilleristen in die neuen Kasernen ein. Dieser Einzug des Militärs in Pr. Eylau war ein großes Ereignis, auch ich stand mit Blumen an der Straße, es ist mir noch wie heute in Erinnerung. Mit Musikzug, Pferden, Kanonen, Gulaschkanonen usw. marschierten die Soldaten ein, und wurden unter großem Jubel von der Bevölkerung begrüßt, nun waren wir wieder wer!!! Abgesehen von den schmucken jungen Männern, die nun nach Pr. Eylau kamen, gab es mit dem Militär auch wirtschaftlichen Aufschwung. Bislang war die Stadt ein kleines „Nest“ gewesen, auch wenn wir D-Zug-Station auf der Strecke von Königsberg nach Prostken/ Lyck waren. Viele Pr. Eylauer Mädchen hatten nun gute Chancen, einen Unteroffizier, Feldwebel oder auch einen Offizier zu heiraten. Sie waren dann versorgt, bekamen hübsche und geräumige Wohnungen bzw. kleine Häuser. Das alles war für Pr. Eylau und seine Einwohner ein großer sozialer Aufstieg. Im großen und ganzen waren die Einwohner Kaufleute, Angestellte, Handwerker und Arbeiter gewesen, nun kamen neben den Soldaten auch noch viele Verwaltungsbeamten dazu.

Auch mein Vater beschäftigte einige Arbeiter, z.B. den Rollkutscher, er fuhr mit einem Pferdefuhrwerk alle Güter, die mit der Bahn angeliefert worden waren, zu den jeweiligen Empfängern. Dann waren da die LKWFahrer und der Treckerfahrer. Der Truppenübungsplatz Stablack – 10 km entfernt – wurde gebaut, alle Baumaterialien mußten mit Lastwagen transportiert werden, denn Stablack hatte damals noch keinen Bahnanschluß. Die Eisenbahnstrecke dorthin wurde erst sehr viel später gebaut. Um das alles übersehen zu können, kaufte Vati sich einen Opel P4, mit dem er dann hin- und herfuhr. Ursel und Mutti machten nun auch ihren Führerschein. Ein Fuhrunternehmer mußte, sobald die Waggons bei der Güterabfertigung in Pr. Eylau angekommen waren, mit seinen LKWs zur Stelle sein, um die Eisenbahnwagen zu entladen. Nicht nur die Baumaterialien, sondern auch sämliches Brennmaterial wie Koks, Kohlen oder Brikett (für unsere Kohlenhandlung) wurden per Eisenbahn angeliefert.

Eines Tages verunglückte einer unserer Chauffeure bei der Arbeit. Mauschick – so hieß der Mann (man redete die Arbeiter nicht mit HERR an, sondern nur mit Namen) – wollte einen Waggon abkoppeln und gelangte dabei zwischen die Puffer und wurde schwer am Bein verletzt. Mauschick war unser bester Mann, er war eine Art Vorarbeiter, und somit war nun guter Rat teuer. So einen LKW unbenutzt stehen zu lassen, hätte viel Geldeinbuße bedeutet, außerdem war es auch nicht leicht, einen Fahrer mit entsprechendem Führerschein zu bekommen. Einen Führerschein zu besitzen, war damals noch nicht selbstverständlich und schon gar nicht für so einen großen Lastwagen.

Zu dieser Zeit hatte mein späterer Schwager, Diderich Klugkist (Vater von Ilsemarie), gerade seine Motorradschule in Romitten beendet. Romitten lag in der Nähe von Pr. Eylau, und er hatte bei uns Besuch gemacht. Seine Eltern waren in Seehesten Krs. Sensburg unsere ehemaligen Nachbarn gewesen. Er hatte den Motorradkurs gerade beendet und wartete auf seine Einberufung zum Militär, um die zweijährige Wehrpflicht abzuleisten. Von Beruf war er Landwirt und sollte später die Besitzung Seehesten bewirtschaften, ca. 3.000 Morgen, bzw. 750 65 ha groß. Er hatte noch etwas Zeit und spielte deshalb bei uns für 14 Tage Lastwagenfahrer, bis Vati anderweitigen Ersatz gefunden hatte. Er wohnte bei uns, aber Sanna war zu der Zeit nicht zu Hause, die Liebe entspann sich erst sehr viel später.

Neben dem schon erwähnten Fuhrgeschäft, dem bahnamtlichen Rollfuhrunternehmen, der Kohlenhandlung und der Möbelspedition gehörte noch eine Tankstelle von der D.A.P.G. (Deutsch-amerikanische Petroleum Gesellschaft) dazu und etwas Landwirtschaft. So baute Vati unsere Kartoffeln selber an, da mußte ich im Herbst bei der Kartoffelernte helfen. Sobald die Maschine (Buddler) die Kartoffeln ausgeworfen hatte, mußten sie per Hand in Körbe gelesen werden, dafür wurde ich sogar entlohnt. Außerdem hatten wir Enten, Pferde und Schweine. In unserem Haushalt wurden nur Enteneier verwendet und während des Krieges war jeder froh, wenn er von uns ein paar Eier geschenkt bekam, sie unterlagen nämlich nicht der „Ablieferungspflicht“. Es waren die kleinen Khakienten – sie sehen so ähnlich aus, wie die Enten hier auf unserem Fleet.

Im Winter wurde dann ein Schwein geschlachtet, und das Schlachtfest fand in unserer Küche statt. Weckgläser wurden eingekocht, Fleisch wurde eingepökelt, Wurst und Schinken in den Rauch gehängt (beim Fleischer). Da die Blut- und Leberwurst in einem großen Kessel gekocht werden mußte, bevor sie zum Räuchern gegeben wurden, wurde zum Wurstessen eingeladen. Wurstsuppe war eine Delikatesse, dazu gab es Weißbrot oder Kartoffeln. Überhaupt wurde in meinem Elternhaus ab und an zum Abendbrot eingeladen, Mutti konnte wunderbar kochen, dadurch habe ich es eigentlich gelernt. Das Doennig’sche Kochbuch gab es damals schon.

Selbstverständlich wurden alle Familienfeste wie Einsegnungen, Geburtstage, sogar Sannchens Hochzeit im Jahre 1942 zu Hause gefeiert. Es war nicht üblich, daß man in ein Lokal ging, abgesehen davon, daß es in Pr. Eylau kein Lokal gab, in dem man hätte so etwas festlich begehen können. Bei solchen Anlässen wurden die Schüsseln nicht nur herumgereicht, sondern es wurde richtig serviert, was ich dann so mit ca. 14 oder 15 Jahren lernte. Anbieten von links, Abräumen von rechts und möglichst keine Bestecke hinfallen lassen. Der Kreis der Freunde in Pr. Eylau war für die Eltern klein, das Ehepaar Stabe (Gartenbaumeister), er wohnte uns gegenüber, evtl. noch der Pfarrer Braun mit seiner Frau und vielleicht noch Frau Hensel, mit deren Sohn Mohr jahrelang sehr eng befreundet war, leider war es eine unglückliche Liebe.